AN Nr. 3: Verpflichtung Thomas´zur Leitung des Musischen Gymnasiums

Vorwurf:

J.C. Martini: .....Mit der Leitung des Musischen Gymnasiums, ein, wie wir hörten, "Wunschkind" Adolf Hitlers und von ihm persönlich über einen seiner engsten Vertrauten, Martin Bormann, subventioniert, wurde Herr Kurt Thomas betraut. Warum wohl?

Entgegnung:

Die Idee zur Gründung des "Musischen Gymnasiums" geht nicht auf nationalsozialistische Stellen oder gar auf eine Anregung Hillers zurück, sondern hat ihren geistigen Schöpfer in dem jüdischen Musikreferenten Professor Leo Kestenberg im Kultusministerium in Berlin, der seine Pläne im Jahr 1928 nach langer Vorarbeit fertig ausgearbeitet zur praktischen Verwirklichung in einer Denkschrift niedergelegt hatte. Durch den Regierungswechsel im Jahr 1933, der auch zu einer Entlassung Kestenbergs führte, konnte dieser seinen Plan nicht mehr selbst ausführen (2).

Statt dessen machten sich der neue Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, vor allem aber der zu seinem Amt gehörende Oberregierungsrat Dr. Martin Miederer die Ideen und Pläne Kestenbergs zu eigen und arbeiteten zielstrebig an einer Realisierung. Dieses großangelegte Konzept konnte entsprechend den Voraussetzungen in einem totalitär geführten Staat, in dem eine Angelegenheit einfach 'befohlen' werden konnte, relativ leicht durchgeführt werden, was nicht als ein Lob der Diktatur ausgelegt werden soll. So verwundert es nicht, daß schon in der zweiten Hälfte des Jahres 1938 die Eröffnung eines Musischen Gymnasiums greifbare Formen annahm. Ein vom Reichsminister herausgegebenes "Merkblatt für die Aufnahme in das Musische Gymnasium" legte dessen Rahmen, Aufgabenstellung und Ziele fest und bildete somit die Grundlage weiterer Arbeit und Planung. In erweiterter, durch den Einfluß von Kurt Thomas teilweise leicht geänderter Form und in prägnanterem Wortlaut wurde der Inhalt dieses Merkblattes ein halbes Jahr später als Gesetz erlassen und im Amtsblatt veröffentlicht (3).

und weiter unten:

Im Herbst 1938 wurde Thomas in das Erziehungsministerium zu Dr. Miederer bestellt. Miederer eröffnete ihm, daß man ihn zum Leiter eines Musischen Gymnasiums machen wolle, da man ihn für die einzig dafür prädestinierte Persönlichkeit halte. Thomas ließ sogleich durchblicken, daß er nicht gewillt sei, seinen großen Aufgabenkreis an der Staatlichen Hochschule in Berlin zu verlassen und die Leitung der von ihm gegründeten und dirigierten "Kurt-Thomas-Kantorei" aufzugeben. - Lange Zeit hörte Thomas nichts mehr von diesem Projekt, er vergaß die Angelegenheit beinahe über seiner Deutschlandreise mit der Kantorei im Frühjahr 1939. Im Hintergrund wurde aber der Vertrag für die Errichtung des Musischen Gymnasiums zwischen der Reichsregierung und der Stadt Frankfurt ausgehandelt und unterzeichnet (7).

Auf einer Ferienreise Ende März/Anfang April 1939 von Berlin nach Wiesbaden las Kurt Thomas eine Zeitungsüberschrift: "Das erste deutsche Musik-Gymnasium. Eine Gründung in Frankfurt". Der Artikel erläuterte Aufbau und Ziele: "Da das Musik-Gymnasium einen hervorragenden Chor organisieren wird, darf man sich von ihm auch starke Antriebe für das Frankfurter Musikleben erhoffen. Zum Leiter der Anstalt ist der bekannte Komponist Kurt Thomas ausersehen, der zur Zeit die Dirigentenklasse an der Staatlichen Musikhochschule in Berlin leitet und auf dem Gebiete der Chorerziehung eine besondere Erfahrung, besitzt" (8). Thomas, der sich überfahren fühlte, war sehr erregt und versuchte sofort, den Frankfurter Oberbürgermeister Staatsrat Dr. Krebs anzurufen, um Protest einzulegen gegen die Nennung seines Namens in einem Zusammenhang, von dem er, Thomas, nicht unterrichtet sei. Kurz darauf wurde Thomas von Dr. Miederer, der sich gerade in Frankfurt befand, angerufen, wobei der versuchte, durch Klärung aller Einwände und Bedenken Thomas' Ärger zu stillen. Alles Weitere wurde auf in Berlin zu führende Verhandlungen vertagt.

Dieses Faktum zeigt die Konflikte auf, in die nicht nur Thomas als designierter Direktor des Gymnasiums, sondern sowohl jeder freischaffende Künstler als auch Festbeamteter in Deutschland zu jener Zeit gestellt war. Es gab in Wahrheit keine freie Entscheidungsmöglichkeit, sondern nur das Sich-Abfinden in einem Druck, der von oben ausgeübt wurde. Als Thomas sich anfangs weigerte, das Musische Gymnasium zu leiten, zwang ihn Dr. Miederer: "Es wäre mir ein Leichtes, einen Führerbefehl zu erwirken!" (9). Wie Dr. Miederer später erzählte, sei Thomas wie ein Igel gewesen, der überall stach und sich wehrte, als er ihn anfangs zur Übernahme des Direktorats des Musischen Gymnasiums überreden wollte.

Die Osterferien verbrachte Thomas damit, alle Einwände, die er gegen die neue Aufgabe hatte, alle Bedenken, die gegen die Sache selbst sprachen, aber auch alle Voraussetzungen, die für ihr Gelingen notwendig waren, zusammenzutragen. Lange Gespräche mit Karl Straube, der Thomas schon so oft bei schweren Entscheidungen mit klugem Ratschlag väterlich zur Seite gestanden hatte, trugen wesentlich zur Klärung der Probleme bei. Ein Brief Straubes läßt erkennen, wie klar der Thomaskantor die Gründe und Gegengründe gegeneinander abwog. Er reduzierte die Komplexität der Beweggründe auf zwei entscheidende Positionen, um die Entscheidung zu erleichtern: a) wenn Thomas nach erfolgter Selbstprüfung der Auffassung sei, "... Kraft in sich zu fühlen, als schöpferischer Geist der Welt Werke schenken zu können, die dein Schaffen von Felix Mendelssohn oder Robert Schumann an Höhe der künstlerischen Vollendung und Dauer der Wirkung (..) gleichgestellt werden dürften (..), so wäre es Pflicht, dein Gebote der schöpferischen Kraft bei allen Entscheidungen über die Zukunft in erster Linie zu gehorchen" (1 0). b) "Auf der anderen Seite würde Ihre Tätigkeit an dem ersten musischen Gymnasium Deutschlands von weitreichender Wirkung und von hoher Bedeutung für- die musikalische Zukunft unseres Volkes sein. Auch diese Aufgabe verlangt vollen Einsatz eines ganzen Lebens. Was zu lösen von Ihnen verlangt wird, ist nicht weniger, als ein in der Praxis erprobtes Vorbild zu schaffen, wie eine geistig hochstehende Allgemeinbildung, verbunden mit einer musikalisch durchgreifenden Schulung von beruflicher Sachlichkeit mit dein Ziel einer Früchte tragenden Wirkung auf die anvertraute Jugend angewandt werden muß".

Straube präzisierte: " Wenn Sie zu dein Entschluß kommen, in der schöpferischen Arbeit die Aufgabe Ihres Lebens zu suchen, so ist es Ihre Pflicht, den Ruf abzulehnen (..) Ihre Begabung würde in Gefahr stehen, die eigene Selbständigkeit zu verlieren und in 'Kapellmeistermusik' zu versanden " (11). Dann kam er auch auf rechtliche Probleme zu sprechen: "Ob diese Ablehnung wirksam sein wird, ist mir zweifelhaft. Erstens ist Ihr Name als Leiter des ersten musischen Gymnasiums in der gesamten deutschen Presse schon genannt, zweitens hat das Kultusministerium" gemäß den Gesetzesbestimmungen nach 1933, das Recht, jeden Professor einer Hochschule von der einen Universität zu einer anderen zu versetzen, mit oder ohne seine Zustimmung. Der akademische Lehrer ist Staatsbeamter und hat als solcher zu gehorchen. Dieses Gesetz hat auch Geltung für die Lehrer an der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik-, denn diese ist Gleichgeordnet den wissenschaftlichen Hochschulen" (12).

und weiter unten:

Dieser Brief, den sich Thomas sehr zu Herzen nahm, führte dazu, daß sich die positiven Aspekte der Unternehmung nach und nach durchsetzten. Die Bedenken aber, eine große und beglückende Tätigkeit als Chorerzieher aufzugeben, verbunden mit der Unsicherheit, ob in einem neuen Amte Zeit und Ruhe für eigenes kompositorisches Schaffen verbleiben würde, blieben vorerst bestellen.

aus Bethke, Seite 59 - 61

Dazu:

Thomas hat sich also nicht um die Leitung der Schule - die Dr. Stoodt immer wieder mit einer NAPOLA oder Adolf-Hitler-Schule gleichsetzen möchte - bemüht. Im Gegenteil: Thomas machte die Übernahme von Bedingungen abhängig, die in den Augen der Nazis provokatorisch klingen mussten (siehe nachfolgende Aktennotiz Nr. 4) und mit deren Hilfe er die Schule von politischen Einflüssen weitgehend freihalten konnte. Auch seine erst viel später aufgezwungene Mitgliedschaft in der NSDAP hat mit der Übernahme der Schulleitung nichts zu tun. Er war zuvor der jüngste Professor in Deutschland, hatte mit seinen Kompositionen und seiner Berliner Kurt-Thomas-Kantorei aufsehenerregende internationale Erfolge und glänzende Zukunftsaussichten. Ihn als Profiteur, Opportunist, Mitmacher und später als Wendehals zu bezeichnen, wie dies die Anti-Nazi-Koordination ständig wiederholt, zeugt von völliger Fehleinschätzung und muß jeden empören, der das Tun von Prof. Thomas über längere Zeit hin begleiten konnte.