Abschied von Professor Thomas und der Dreikönigs-Kantorei

Ein Beitrag von Pfarrer Martin Schmidt im Gemeindeblatt der ev. luth. Dreikönigsgemeinde - Frankfurt am Main
Nr. 5 / 6. Jahrgang Mai 1957:

Wenn zu diesem Thema noch einmal im Gemeindeblatt ein Wort geschrieben wird, so glaube ich, daß Keiner dazu mehr Berechtigung hat als ich. Ist doch am 12. Juli 1945 die Gründung der Kantorei in unserer Pfarrwohnung zwischen Prof. Thomas und mir beschlossen worden! Wenn in diesem Artikel noch einmal bestimmte geschichtliche Daten erwähnt werden, so soll der Leser, der darüber Bescheid weiß, daran keinen Anstoß nehmen. Der Abschied von all den Menschen, die mit dem ganzen Einsatz ihrer Persönlichkeit unter der Leitung eines sicher oft in seinen Anforderungen strengen Dirigenten die ganzen Jahre hindurch der Gemeinde mit der gesungenen Verkündigung gedient haben, ist nicht nur für mich ein schwerer. Beinahe jeden Tag werde ich angesprochen oder angeschrieben, warum denn diese herrliche Arbeit nun aufhört. Auch die Briefe von sich anbietenden Dirigenten mehren sich. Es wird den letzteren allen mitgeteilt, daß die Kirchengemeindevertretung beschlossen hat, die Kantorei-Arbeit nicht weiterzuführen, sondern nur in einem Singkreis zunächst die Kirchenmusik weiter zu pflegen. Unter uns gesagt: Auch ich bedauere es jeden Tag von neuem, daß wir aus Mangel an Mitteln (Prof. Thomas hat nur einen Zuschuß zu den Wohnungs- und Reiseunkosten von uns erhalten-) die Kantoreiarbeit nicht weiterführen können, wobei sich mir allerdings immer mehr eine entscheidende Frage aufdrängt: Kann nach solch reichen Jahren unter so einmalig großartiger Leitung einer Kantorei zugemutet werden, unter völlig veränderten Verhältnissen weiter zu singen? Ich denke dabei besonders an diejenigen, die zum alten Stamm der Kantorei gehören und zum Teil inzwischen verheiratet sind und eigene Familien haben, oder an diejenigen, deren Weg durch berufliche Bindungen sich längst von Frankfurt entfernt hat. lch selbst habe herzlich und dringend darum gebeten, daß diejenigen, die es zeitlich und beruflich noch können, doch in unserem Singkreis mitsingen möchten. In diesem Zusammenhang muß ich ein ehrliches Wort sagen. Es ist doch wohl selbstverständlich, daß, wenn überhaupt aus der alten Kantorei Menschen zum Weitersingen geworben werden, dies durch die Dreikönigsgemeinde zu geschehen hat. Ganz abgesehen von der Tatsache, daß der Sache der Kantorei von Anfang an meine besondere Liebe gehört hat, muß doch festgestellt werden, daß es die Kirchengemeindevertretung der Dreikönigsgemeinde gewesen ist, die rein rechtlich und finanziell die Arbeit dieser Kantorei getragen und von dieser Seite aus ermöglicht hat. Aber auch im Blick auf die Kantorei selbst möchte ich einen Satz zitieren, der schwarz auf weiß vor meinen Augen liegt: "Die Aufführungen kirchenmusikalischer Werke haben uns, immer unter Leitung von Prof. Thomas, in weite räumliche Entfernung von der Dreikönigskirche gebracht. Aber sie bleibt doch der Mittelpunkt all unseres Wirkens. Zu ihr zieht es uns stets wieder zurück. Sind wir doch dankbar für alle Unterstützung, die wir nun schon ein Jahrzehnt hindurch von Seiten der Pfarrer, des Kirchenvorstandes, des Organisten und der zuhörenden Gemeinde selbst empfangen haben." Wir können nur hoffen, daß uns weiterhin ein Teil der alten Kantorei-Mitglieder wenigstens für die erste Zeit in der Arbeit unseres Singkreises unter Gottlob Ritter noch unterstützen kann. Wie schwer nach einer solch langen Zeit bester und großartigster Arbeit auf dem Gebiet der Kirchenmusik ein neuer Anfang ist, darüber verliere ich kein Wort
Aber nun zu dem Abschied selbst.. Die beiden Konzerte am 17. März mit der Aufführung von 4 Bach-Kantaten und am 26. März mit der Aufführung, der Johannes-Passion von J. Seb. Bach sind wohl von allen Hörern mit einer ganz besonderen Aufnahmebereitschaft erlebt worden. Ich verweise hier auf die in den in Frankfurt erscheinenden Zeitungen ausführlich gegebenen Kritiken, möchte aber nicht versäumen, aus der Kritik in der „Neuen Presse“ einen Absatz wörtlich zu zitieren. Er lautet: "Dem Vernehmen nach soll die verdienstreiche Singgemeinschaft nach dem Weggang ihres Begründers aufgelöst werden. Jammerschade! Wäre es nicht möglich, daß. das wertvolle „Instrument“ unter einem neuen fähigen Mann doch dem Frankfurter Konzert erhalten bliebe?“ Auch bei diesen Stimmen derselbe Unterton, derselbe Hinweis auf ein schmerzliches Vermissen in den kommenden Jahren. Es wird nicht nur mir so gegangen sein, dass bei dem Schlußchor der Johannes-Passion die Kräfte des eigenen Herzens durch die Wehmut des Abschieds fast überfordert waren. Und es bedurfte erst einer Pause der Stille, um nach diesem letzten Konzert mit sämtlichen Musizierenden noch für ein paar kurze Abschiedsstunden menschlich zusammen zu sein. Zum Glück sind an diesem Abend von niemanden lange Abschiedsreden gehalten worden. Aber für den Schreiber dieser Zeilen war es doch besonders herzbewegend, als ihm eines der ältesten Mitglieder der Kantorei nach herzlichen Worten des Dankes die in Paris auf Schallplatten gesungene "Matthäus-Passion“ unserer Kantorei zum Andenken überreichte. "Damit Sie uns und die Kantorei nie vergessen“. - Wie könnte jemand, noch dazu, wenn er selbst mitgründend an einem solchen Werk tätig gewesen ist wie der Empfänger dieser Gabe, jemals vergessen, was an all den herrlichen Abenden, in den Gottesdiensten und Vespern an Freude, Trost, Mahnung und Bekenntnis durch dieses Singen den Hörenden geschenkt worden ist!
Wenn ich daran denke, wie am 9. September 1945, aIs die Gemeinde noch im jetzigen Haus „Daheim“ am Schaumainkai ihre Gottesdienste halten durfte, zum ersten male der damals noch kleine Kreis (etwa 30 bis 40 Mitglieder) die Motette von Arcadelt sang: "Jesu, komm doch selbst zu mir", dann steht von diesem Termin ab ein einziges fröhliches Licht in der Mitte aller Erinnerungen an diese Jahre. Die Haus-Konzerte in der Holbeinstraße 8, eingerichtet, um den mittellosen Jungen, die zurückgekommen waren und nicht an ihre Heimatorte zurück konnten, zu helfen, wurden jeden Mittwoch regelmäßig abgehalten. Wenn ich mir überlege, daß in 3 Räumen bis 120 Menschen als Hörende sich gegenseitig den Platz gönnten, dann verstehe ich, daß es die Teilnehmenden heute noch bewegt, daß damals an einem Ort in der Stadt in dieser Form wirklich beste Musik ausgeübt wurde. Der 12. Dezember 1945 - alle Räume waren nur von Kerzen erleuchtet - bedeutet für unser Haus einen Höhepunkt. An diesem Abend wurde das a-capella-Werk „Weihnachts-Oratorium“ von Prof. Thomas gesungen. Es folgten Aufführungen des gleichen Werkes in unserer Notkirche in der Göbschen Fabrik, im Taunus, in Friedberg, Bad Nauheim und Aschaffenburg. Immer wieder hatte man von den jungen Sängern und Sängerinnen gehört, daß gerade diese Konzertfahrten es waren, die das menschliche Band unter den Mitgliedern der Kantorei ständig gefestigt haben. Im August 1946 war die Kirche soweit hergestellt, daß dort mit dem Singen begonnen werden konnte. Mit Prof. Walcha, der inzwischen als Organist an die Dreikönigskirche berufen war, kam es dann zu der Einführung der samstäglichen Vespern, zu deren Besuch (17 Uhr an jedem Samstag) wir nicht herzlich genug einladen können. Im März 1948 wurde dann als erstes großes Werk die "Johannes-Passion“ von J. S. Bach gesungen, der die Aufführungen der großen Werke dieses Meisters der Kirchenmusik Jahr für Jahr folgten.
Seit 1950 musizierte die Kantorei u. a. in Wiesbaden, Kassel und Darmstadt und bei der Bachwoche in Ansbach. Seit Herbst 1953 weitete sich der Raum und damit auch Anerkennung und Bedeutung dieser aus kleinsten Anfängen hervorgegangenen Singegemeinschaft. Frankreich, Spanien und Italien luden in regelmäßiger Folge zu Konzertreisen ein.
Es hat mich bewegt, wie in dem von Ernst und Humor getragenen, von Mitgliedern der Kantorei selbst zusammengestellten Singspiel nachts am 26. März 1957 sich diese jungen Menschen über ihren eigenen Abschiedskummer "hinwegsangen". Vielleicht hat gerade in dem Verzicht auf große Abschiedsreden die Echtheit dieses Kummers ihren besten Ausdruck gefunden.
Nun geht Prof. Thomas nach Leipzig, um jenes Amt zu versehen, das für einen Dirigenten im besonderen Raum der Kirchenmusik ein unüberbietbares Ziel ist. Wir hoffen sehr, daß wir ihn in der Dreikönigskirche mit den Thomanern bald hören werden. Unsere herzlichen Segenswünsche geleiten ihn auf seinem weiteren Weg. Und wenn die ihm von der Gemeinde geschenkten Leuchter bei besonderen Gelegenheiten brennende Kerzen tragen, möge ihm dieser Kerzen stilles Licht eine stete Erinnerung sein an eine Zeit gemeinsamer Arbeit und Freude, die ihm wie uns ein unvergessenes Kleinod des Erlebens bleiben wird.
Martin Schmidt, Pfarrer