Kurt Thomas wird uns verlassen

Pfarrer Fritz Creter im Dreikönigsboten Oktober 1956

Eingeweihte Kreise wußten längst, daß Prof. Kurt Thomas unter den Persönlichkeiten war, mit denen bereits im März d. J. gleichzeitig und mit gleichlautenden Schreiben von Leipzig aus Fühlung genommen worden war wegen der Nachfolgerschaft für den verstorbenen Thomaskantor Ramin. Kurt Thomas verzichtete darauf, diese Tatsache der Öffentlichkeit mitzuteilen, während ein anderer Musiker, der in der gleichen Lage war wie er, offenbar redseliger war und in der Presse als neuer Thomaskantor namentlich genannt wurde. So konnte der Eindruck entstehen, man wäre an Prof. Thomas erst herangetreten, nachdem ein anderer die ehrenvolle Berufung abgelehnt gehabt hätte. Dem ist nicht so. Die Verhandlungen zwischen Leipzig und Frankfurt (bzw. Detmold) waren keinen Augenblick abgerissen; sie zogen sich naturgemäß länger hin als bei der Besetzung einer ixbeliebigen Stelle und fanden nun ihren Abschluß.

Mit sehr gemischten Gefühlen aber nahm vor allem die Dreikönigsgemeinde die amtliche Verlautbarung zur Kenntnis, die am 12. September veröffentlicht wurde:
„Kurt T h o m a s wurde vom Rat der Stadt Leipzig im Einvernehmen mit den kirchlichen Stellen als Nachfolger Günther Ramins zum Thomaskantor berufen. Alle bisherigen Gerüchte und Presse-Notizen über die Neubesetzung des Thomaskantorats stammen aus privater Hand und entbehren jeglicher sachlicher Grundlage. Professor Thomas wird sein neues Amt nach Lösung seiner bisherigen Verpflichtungen spätestens zum 1. April 1957 antreten. Mit dieser Berufung ist wieder eine Grundbedingung der Anstellungsurkunde erfüllt, wonach der Thomaskantor zugleich ein bekannter Komponist sein soll“.

Am gleichen Tage betonte vor Pressevertretern der amtierende Oberbürgermeister von Leipzig, Fleschhut, bei der Besetzung dieses Postens sei ausschließlich von dem Gesichtspunkt ausgegangen worden, daß der Weltruf der Thomaner erhalten und die 750jährige Tradition des Chores würdevoll fortgesetzt und gepflegt werde. Mit Professor Thomas sei im Einvernehmen mit den Kirchenbehörden eine Persönlichkeit von höchster musikalischer Qualität und ein hervorragender Pädagoge gewonnen worden. Auf Wunsch des Gewandhaus-Kapellmeisters, Prof. Franz Konwitschny, wird Kurt Thomas gleichzeitig die Leitung des Gewandhaus-Chores übernehmen. Außerdem wird er an der Leipziger Hochschule für Musik Unterricht in der Chordirigentenklasse erteilen.

Kurt Thomas wurde am 25. Mai 1904 in Tönning an der Eider geboren und verbrachte seine Schulzeit in Lennep im Bergischen Lande. Nach dem Abitur war er seit 1922 in Leipzig Schüler von Robert Teichmüller, Hermann Grabner, Arnold Mendelssohn und vor allem Karl Straube. Nach dem aufsehenerregenden Erfolg seiner von den Thomanern 1925 uraufgeführten Messe Opus 1 wurde der 21jährige als Dozent an das Leipziger Konservatorium berufen. Dort lehrte er bis 1934 Theorie und leitete die von ihm gegründete Kantorei. 1927 erhielt Thomas nach dem Erfolg seiner Markus-Passion den neugegründeten staatlichen Beethoven-Preis. 1934 wurde er als Professor an die Berliner Hochschule berufen. Auch dort gründete er eine Kantorei, die durch ihre In- und Auslandsreisen sich einen Namen machte. 1936 errang die olympische Cantate von Thomas eine Medaille. 1939 wurde er als Leiter des Musischen Gymnasiums nach Frankfurt am Main berufen. Der neugegründete Knabenchor dieser Schule hat sich bald durch seine Konzertreisen im In- und Ausland einen Ruf in der Musikwelt erobert. Heute ist Thomas Professor für Chordirigieren än der Nordwestdeutschen Musikakademie in Detmold und Leiter des dortigen Oratorienchores. Außerdem leitet er die Kantorei der Dreikönigskirche und den Caecilienverein in Frankfurt am Main, mit denen er alljährlich große Chorwerke zur Aufführung bringt. Die Dreikönigskantorei führte mehrere große Auslandskonzertreisen durch und wurde durch ihre Mitwirkung in den Ansbacher Bach-Wochen und durch ihre Schallplattenaufnahmen bei Oiseau-Lyre in Paris weithin bekannt.

Mit Hugo Distler und Ernst Pepping gehört Kurt Thomas als zeitlich erster zu der Gruppe von Musikern, die in den 20er Jahren des Jahrhunderts die evangelische Kirchenmusik aus ihrer Enge befreite und einem neuen Aufschwung entgegenführte. Thomas weitete den Kreis seiner Kompositionen aus: neben seine geistlichen Chorwerke traten von Anfang an Werke für Kammermusik und Orchester, sowie zahlreiche weltliche Chorwerke. Die „Kleine geistliche Chormusik“ Opus 25 stellt eine vielverwendete Sammlung des evangelischen Kirchenmusikers Thomas dar, die ein leichtausführbares Motettengut für alle Feste des Kirchenjahres birgt.

Neben seiner umfangreichen kompositorischen Tätigkeit ist Kurt Thomas' pädagogisches, vor allem chorerzieherisches Wirken hervorzuheben. Namhafte Chordirigenten (u. a. Frhr. v. Bloh, G. Bremsteller, H. Collum, Th. Egel, H. Hennig, H. Heintze, H. A. Metzger, H. Pflugbeil, L. Romanski, M. Schneider, M. Stephani) und zahllose der „Stillen im Lande“ sind aus seiner Schule hervorgegangen. Sein dreibändiges, alle Gebiete des Chorwesens behandelndes „Lehrbuch der Chorleitung“, dessen erster Band bereits in der 10. Auflage vorliegt, hat sich als Standardwerk auf diesem Gebiet durchgesetzt.

Nach dem Kriege wurde Thomas kompositorische Tätigkeit mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, da er die wachsenden pädagogischen Aufgaben auf dem Gebiete der Chorleitung und der Chordirigenten-Erziehung, deren Bedeutung ihn von jeher erfüllt hatte, für die Zukunft unseres Musiklebens als immer wesentlicher erkannte.

Die Dreikönigsgemeinde gönnt dem seitherigen Leiter ihrer Kantorei sein neues Amt und wünscht dem Leipziger Thomaskantor Gottes Segen für sein weiteres Leben und Wirken. Zugleich sei, ihm von ganzem Herzen gedankt für seinen mehr als zehnjährigen Dienst an der Dreikönigskirche. Die Gemeinde ist sicher, daß Prof. Thomas die schöne Zeit in Sachsenhausen nicht vergessen und in nicht allzu ferner Zeit mit seinen Thomanern erstmalig in unserer Kirche zu Gast sein wird.

Daß wir an die nun ganz sicher bevorstehende Lösung der wunderbaren, gewiß einmaligen Arbeitsgemeinschaft Walcha - Thomas nur mit großer Wehmut denken können, wird uns gewiß niemand verübeln. Über den künftigen Weg der Dreikönigskantorei kann jetzt noch nichts gesagt werden. Immerhin wollen wir froh sein, daß Kurt Thomas während des kommenden Winters noch unter uns sein wird.
Creter.

Der Leipziger Thomanerchor

und das Gewandhaus-Orchester geben am 24. Oktober 1956 ein Konzert in der Dreikönigskirche. Karten gibt es nur bei den bekannten Vorverkaufsstellen.