Bachs „Kunst der Fuge“

Bachs „Kunst der Fuge“ wurde am 25. Mai 1955 zum zweiten Male von Helmut Walcha in unserer Kirche gespielt. Das Gotteshaus war überfüllt, und die tiefergriffenen Hörer werden später erstaunt darüber gewesen sein, daß die hiesigen Zeitungen verhältnismäßig wenig über das Konzert zu berichten wußten. Wenn Helmut Walcha außerhalb unserer Stadt spielt, nimmt die örtliche Presse immer davon so eindeutig Kenntnis, daß der Leser den Eindruck von einem wirklichen kirchenmusikalischen Ereignis hat. Das hat an sich mit dem Organisten weniger zu tun als mit den Werken, die er spielt. Und die „Kunst der Fuge“ ist nun einmal etwas, das sich nicht mit ein paar verbindlichen Wörtern abtun läßt. Eine höchst erfreuliche Ausnahme machte im Mai die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die dem bekannten Publizisten Walter D i r k s über 200. Druckzeilen einräumte für einen hervorragenden Aufsatz: „VERGEGENWÄRTIGUNG. - Zu Helmut Walchas Aufführung der Kunst der Fuge.“

Nach sehr sachkundigen, tiefgründigen musikgeschichtlichen und musikwissenschaftlichen Erörterungen über Bachs letztes und reifstes Werk kommt Walter Dirks zu dem Schluß:
„Nicht vorzustellen, wenn dieses Werk, diese unerhörte Identität von Kalkül und Empfindung, unbekannt geblieben wäre. Wir leben auch von ihm. Natürlich kann man es mißbrauchen. Wer es als ein schönes Stück Musik empfängt und genießt, als eines der großartigsten „Kunstdenkmäler“, die uns überkommen sind, tut wohl daran, aber diese Begegnung kann ebensosehr ein Vorgang der Flucht wie ein Vorgang der Vergegenwärtigung sein. Was das Publikum betrifft, so kann man den einzelnen nicht ins Herz sehen. Es passieren wohl sehr verschiedene Dinge in den Köpfen und Herzen derer, die da nebeneinander auf der Kirchenbank sitzen, scheinbar dem gleichen Ereignis hingegeben, in Wahrheit sehr entgegengesetzten Mächten zugewandt: der Vergangenheit die einen, der Zukunft die anderen, und viele gewiß nur unbestimmt und entscheidungslos bewegt. Aber gerade die, die in ihrer eigenen Gegenwart ihrer und unserer Zukunft zugewandt sind, bedürfen als geschichtstragende und heute geschichtsbewußte Menschen ständig der Erinnerung, ständig der lebendigsten Berührung mit den großen Werken der Vergangenheit. Die „Kunst der Fuge“ und die anderen großen Schöpfungen Bachs gehören nicht anders als Mozarts „Don Giovanni“ und die Sonaten und Symphonien Beethovens, die Préludes von Chopin und der „Tristan“ zu den Werken, die immer wieder vergegenwärtigt werden müssen; wir verstehen uns in ihnen, wir können uns nicht verstehen, wenn wir ihrer nicht innewerden.

Dem Publikum kann man nicht ins Herz blicken. Dem Organisten aber kann man auf die Finger schauen, nicht mit den Augen, aber mit dem Ohr. Es sind historistische Aufführungen der „Kunst der Fuge“ vorstellbar, welche die Flucht in sich enthalten oder nur die Wissenschaft oder beides. Helmut Walcha hat nicht so gespielt. Er hat sich mit einer Intensität, die selten ist, in das Werk versenkt und es mit derselben Intensität erarbeitet, bis es großartig klingend dastand. Das Ergebnis hieß: Vergegenwärtigung.“