Denen, die zum ersten Male auf solch einer musikalischen Reise waren, mögen Länder, Orte, Kirchen und Konzertsäle wie ein Film mit Zeitraffer vor ihren Augen und ihrem Gedächtnis sich abgespielt haben. Um so eindrucksvoller blieb der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht. Die Musik, um derentwillen alle, Dirigent, Solisten, Orchester und Chor für 14 Tage zu Eilenden wurden, als sollte ihnen spürbar werden, daß wir hier „keine bleibende Statt“ haben. Vielleicht ist gerade die Johannes-Passion das Werk, das das „Zukünftige“ den Sieg über Tod und Sünde, und, auf dem dramatischen Hintergrunde der Bosheit und Schwachheit des Menschen, die Herrlichkeit Gottes so großartig in die Mitte rückt, daß sie, mag es den Mitwirkenden und Hörern bewußt werden oder nicht, immer wieder die besagte Sammlung und Konzentration erzwingt, die das rechte Gegengewicht gibt zur Flüchtigkeit einer solchen Reise.
Diesmal mußten die Reisenden vier verschiedene Geldsorten einwechseln, um überall einen Espresso trinken zu können: schweizerisches, italienisches, französisches und spanisches Geld. So viele Grenzen wurden überschritten, daß nur noch eine zum Ereignis wurde, nämlich die deutsche bei Straßburg, die manches Herz höher schlagen ließ, nicht nur vor Freude über die Heimkehr ins Vaterland!
In Bern, Turin, Marseille, Toulouse, Salamanca, Madrid, Barcelona, Bilbao und Bagonne wurden Konzerte gegeben, in Bugos mit seiner berühmten Kathedrale und in Lyon wurde nur übernachtet. Nur in Barcelona und in Bilbao blieben die Reisenden länger als eine Nacht. Es wurden etwa 6000 km Busfahrt zurückgelegt. Die Orte, in denen die Müden freundlich bereitete Privatquartiere fanden, werden in guter Erinnerung bleiben: Bern, Marseille und Barcelona.
Zweimal wurde in der Kirche gesungen, im Berner Münster, eng gedrängt auf hoher Empore, nur für schwindelfreie Solisten geeignet, und im schon vertrauten „Temple“ der reformierten Gemeinde in Marseille, wo Cembalo und Portativ vor den Augen der schon versammelten Zuhörer aufgestellt wurden und der Chor sich in Reisekleidern aus dem Bus heraus im Raum gruppierte.
Den Höhepunkt des immer sehr ausdrucksvollen Beifalls, der in den romanischen Ländern auch bei einer Passionsaufführung nicht zurückgehalten wird, bildete der Applaus im Palacio de la Musica in Barcelona, so daß der Schlußchoral wiederholt wurde. Die Anerkennung galt den Solisten: Ingeborg Reichelt, Morgana Moll, Helmut Kretschmar, Clemens Kaiser-Breme wie dem Collegium musicum Wilhelm Isselmann und besonders auch dem Chor und dem Dirigenten. Die Kantorei beeindruckte es, daß die kleineren Partien aus ihrer Mitte heraus gesungen wurden.
Barcelona mit seinem Ruhetag wird den meisten Mitwirkenden außerdem in besonderer Erinnerung bleiben durch den Stierkampf, der freilich, bei trübem Wetter und ohne Sensationen, nach der Meinung vieler. deutscher Zuschauer mehr einem stilisierten Schlachtfest glich als einem erregenden Schauspiel. Für die Stillen blieb statt dessen das Museum mit seinen wunderbaren Zeugnissen altspanischer kirchlicher Kunst.
Es gab allerlei Erlebnisse mit den Dingen, den Menschen und der Landschaft. Die erfreuliche Erkenntnis, daß der Mensch nicht abhängig ist von der Tücke des streikenden Objektes, sei es ein geplatzter Reifen, eine zersplitterte Fensterscheibe oder ein anderer Schaden an den schweren Autobussen, tröstete und ließ die Gemeinschaft der Busbewohner nur fester und fröhlicher werden.
Die Landschaft Spaniens beeindruckte in ihrer großartigen Kargheit. Von früheren Fahrten nur im Herbst. bekannt, entzückten diesmal ihre zarten und reich abgestuften Frühlingsfarben die rote, ins Lila und Gelb spielende Erde, das mannigfache Blau der charakteristischen Bergformen, weiße BIüten, blaßgrüne Grasflächen, silberne Olivenhaine. Störche, Schafe, geduldige Eselchen und stolz galoppierende Araberschimmel neben den fleißigen Muli milderten den Eindruck, als sei das Land seinen Bebauern nicht freundlich gesonnen. Es schien manchmal, als läge der Schatten seiner Mühsale auf dem Gesichte der Spanier.
Wieviel glücklicher glänzten dagegen im grellen ersten Frühlingslicht oder beschattet von phantastisch drohenden Wolkenbündeln oder im unwillkürlichen Lichterspiel der dahinter niedergehenden Sonne, die verschiedenen Provinzen Frankreichs mit den ordentlichen Weingärten, dem weidenden schwarzweißen Vieh, den liebevoll gepflegten Feldern und den Bögen der Flüsse und der sanften Berglinien. Selbst die schnurgeraden Straßen der Ebene waren wie von schützenden Menschenhänden umfaßt durch die Platanen, die sich einander zuneigend, lange gotische Hallen bildeten. Eine neue Entdeckung gegenüber den von früheren Fahrten bekannten französischen Kleinstädten mit ihren langweiligen Würfelhäusern neben herrlichen Kathedralen und Römerbauten waren die stillen Landstädte Mittelfrankreichs auf Bergen und in anmutigen Tälern mit schönen alten Häusern, Kirchen und Barockfronten.
Daß auch Frankreich, nicht nur die Schweiz, respektable Berge hat, daß aber Spanien ebenfalls ein Bergland ist, lernten alle auf dieser Fahrt. Kurven rechts - Kurven links - man spürte sie bis in den Schlaf hinein. Mancher Angstseufzer wurde laut auf den steilen Kehren oberhalb der Cote d'Azur. Zwei Meere taten sich den Fahrenden auf in der wechselnden Perspektive der bergigen Uferstraßen, das Mittelmeer und der Golf von Biscaya. Ein freundliches Geschick bescherte eine Panne in San Sebastian mit seinem breiten Sandstrande und spanisch warmer Sonne.
Es war eine Reise, die viel von allen forderte, aber auch viel gab trotz mancher Schwierigkeiten, die es galt zu überwinden. Sie schloß die Beteiligten in besonders harmonischer Weise zusammen.
Liselotte Schwenzel