Unsere Kantorei in Italien und Sardinien

Ein Reisebericht von Marianne Born im Gemeindeblatt der ev. luth. Dreikönigsgemeinde - Frankfurt am Main
Nr. 6 / 3. Jahrgang Juni 1954:

Vom 18. 3. bis 30. 3. 54 unternahm die Kantorei der Dreikönigskirche unter Leitung von Herrn Professor Kurt Thomas ihre 2. Konzertreise, diesmal nach Italien und Sardinien. Das Orchester war, wie auch im vorigen Jahr, das collegium musicum Wilhelm Isselmann. Die Solisten: Salvatore Salvati (Tenor). Claude Hafner (Baß) und Leni Neuenschwander (Sopran) trafen in Italien zu uns, während Herbert Heß (Tenor), Martin Gründler (Baß) und Erna Daden (Alt) von uns „gestellt“ wurden.

Unsere Reiseroute war: Caserta, Aquila, Rom, Sassari, Siena, Brescia, Mailand, Novara, Turin.
Nach der Aufführung des Messias in der Dreikönigskirche am 17. 3. traten wir unsere lange Fahrt an - über 10 Breitengrade hinweg! - Von Abschiedsgrüßen und vielen guten Wünschen der Gemeinde begleitet, fuhren unsere 3 großen Omnibusse in die Nacht, dem Süden und dem Frühling entgegen. Am Morgen sahen wir uns wie auf Zauberschlag in die Bergwelt versetzt. Die wie mit Puderzucker überstreuten Gipfel der Eisriesen hoben sich klar und kalt von dem blauen Himmel ab. Die bemalten Bauernhäuser von Mittenwalde und Garmisch waren noch in tiefem Schnee versteckt. Dann lag Innsbruck vor uns in der Morgensonne; wie aus einer Spielzeugschachtel, eine Großstadt in so herrlicher Umgebung.
Auf dem Brenner überquerten wir die Grenze und Wasserscheide. Auch drüben noch Winter. Wasserfälle waren zu dicken Eiszapfen gefroren. Weiter ging es das Eisacktal hinunter. Jetzt schöne grüne Flecken, Birken, und schließlich kein Schnee mehr. Im Trienter Park wiegten schon die Trauerweiden ihre grünen Äste am Springbrunnen.

In der Poebene regnete es. Die Italiener spannten ihre riesigen schwarzen Schirme auf; sogar auch auf dem Rad oder dem zweirädrigen Pferdewagen. Wir fuhren über Verona, Modena, Bologna, nachts durch Florenz und waren gegen Morgen in Assisi. Das kleine Städtchen mit den zwei riesigen Kirchen, die Franziscus wegen ihrer Pracht wohl nicht gebilligt haben würde, liegt am Berg. Innerhalb der Stadtmauer schmiegen sich die schmalen, hellen Häuser dicht aneinander. Kaum verputzt, mit kleinen Fenstern, sind diese Häuser typisch italienisch. Am Mittag würden dort die Fensterläden zugeklappt sein, und über die schmalen Gäßchen würde viel mehr oder weniger weiße Wäsche hängen. Zu dieser frühen Stunde trabte nur ein Esel mit seinem Milchwagen den mit kleinen Steinen gepflasterten Weg hinauf. Das Leben beginnt in Italien erst gegen 9 Uhr. Wir aber fuhren gleich wieder weiter. Hier blühten schon die Obstbäume. Der Wein wurde an dicken Bäumen hochgezogen und knorrige Olivenbäume mit ihren mattgrünen kleinen Blättern sah man immer häufiger.

Auf der Via Flaminia näherten wir uns der heiligen Stadt. Schon von weitem erhob sich die riesige Peterskuppel aus dem Dunst. Palmen waren jetzt keine Seltenheit mehr, und es war sommerlich warm. In Rom mußte sich unser großer Bus durch kleine Gassen winden, da alle Straßen um das Viktor-Emanuel-Denkmal von Menschen verstopft waren. Alpinisten und Studenten machten eine Demonstration für Triest. Als sie mit Fahnen und Plakaten an uns gröhlend vorüberzogen, scharten sie sich auch um unseren Bus und schrien in südländischem Temperament: Trieste, Trieste! Wir fuhren wieder aus Rom hinaus an den Aquaducten vorbei - riesigen Mauerwerken, auf denen früher das Wasser in leichtem Gefälle von den Sabiner Bergen bis in die Stadt floß. Bald sahen wir das Meer vor uns; das blaue, ruhige Mittelmeer. Hinten klebte an einem Berg dicht über dem Wasser eine Stadt, eine italienische Stadt mit hellen Häusern und flachen Dächern. Dunkle Palmen ragten in den Himmel, Obstbäume blühten und dazu noch reife Apfelsinen! Richtige Apfelsinen- und Zitronenhaine säumten unsern Weg. Oft lagen diese kostbaren exotischen Früchte auf der Erde - ganz nüchtern Fallapfelsinen! Auch die Mimosen standen in voller Pracht. Die Büsche waren von gelben Blüten übersät. Als es gebirgig wurde, kamen wir wieder durch ärmere Gegenden. Schafe, von denen es sehr viele dort gab, begnügten sich mit dem armen Gras. Da die kleinen italienischen Städte keine Wasserleitung haben, holten die Frauen das Wasser in wunderschönen, zweihenkligen Kupferkrügen vom Brunnen. Wie alles andere trugen sie es auf dem Kopf. Die Wäsche wurde am Bach an Steinen gewaschen und am Fenster oder auch auf der Brombeerhecke getrocknet. Auf unsrer Fahrt bis Caserta kamen wir an vielen Städten vorbei, die alle geschlossen auf einem Hügel oder am Berge lagen. Oft wuchsen auf den Hügeln Pinien und Zypressen; Pinien wie aufgespannte Regenschirme und Zypressen wie geschlossene. In Caserta, dem italienischen Versailles, in der Nähe von Neapel, sangen wir in einem Palast die Matthäuspassion. Wir versuchten die langen Spaghetti möglichst zünftig zu essen und fielen nach unserer 48 stündigen Fahrt todmüde in unsere vornehmen Betten.

Aquila liegt ungefähr 1000 m hoch am Fuß des Grande Sasso, der noch über und über mit Schnee bedeckt war. Wir sangen wieder die Matthäuspassion, und wieder klatschten unsere begeisterten Zuhörer Beifall.
Zum 2. Mal kamen wir am nächsten Tag nach Rom. Herr Professor Leo Bruns hatte die Freundlichkeit, uns zu führen. In der kurzen Zeit erzählte er uns so viel und so interessant, daß wir vielleicht jetzt mehr wissen, als wenn wir allein wochenlang dort gewesen wären. (Wir sahen den ältesten Teil Roms um die Salzstraße, auf der früher die Mulis das Salz nach Rom tragen mußten.) Von den vielen Palästen in einem anderen Stadtteil sind heute die meisten verkauft. Die sieben Hügel sind nur noch undeutlich zu erkennen; man muß sich vorstellen, daß sie ursprünglich zwei Stockwerke höher waren. Auf einem der Hügel, dem Aventin, steht eine der 70 Marienkirchen, die schönste alte Kirche Roms, St. Sabina. Sie wurde um 430 n. Chr. erbaut, zur Zeit, als auch St. Paolo und St. Maria Maggiore entstanden. Ohne Seitenschiff, mit einfacher Kassettendecke und zarter Bemalung zwischen den romanischen Bogen, blieb sie fast unberührt von späteren Kunststilen. Eine Tür trägt eine der ältesten Kreuzigungsdarstellungen. Christus ist als der Gekreuzigte und zugleich Erhabene in der Bewegung einfach, aber sehr eindrucksvoll, dargestellt. Auf dem Kapitol standen früher zwei Tempel des Saturn - der Platz zwischen den beiden hieß Asyl! - Die Anlage auf dem Hügel, wie sie heute besteht, ist ein Werk Michelangelos. Die Reiterstatue Marc Aurels wurde zu Ehren Karls des V. aufgestellt, als dieser Papst Paul III. besuchte; denn Karl V. hatte sich Marc Aurel zum Vorbild genommen. Die Peterskirche wurde in der Renaissancezeit unter kunstliebenden Päpsten - besonders Leo X. - von Bramante, und später Michelangelo erbaut. Über dem Grab Petri erhebt sich die größte Kirche Europas. Nur allein in die Kuppel könnte man den größten italienischen Palast stellen. Man muß sich diese Größenverhältnisse klar machen, sonst ist man beinahe enttäuscht. Über dem Baldachin wölbt sich die riesige Kuppel - 45 Meter im Durchmesser und 90 Meter hoch, - die von Michelangelo ausgemalt ist. Die schönste der Vielen Plastiken ist wohl die Pieta, ein Jugendwerk Michelangelos. Der Hochaltar ist ein Barockwerk von Bellini. Von dem Platz aus mit zwei riesigen Springbrunnen und dem Obelisk des Caligula, sieht man nur wenig von dem Palast des Papstes mit seinen 1000 Räumen; aber doch wenigstens den kleinen Schornstein, aus dem die sfumata steigt, wenn in der Sixtinischen Kapelle ein neuer Papst gewählt wurde (habemus papam) und dunkler Rauch, wenn es noch unentschieden ist.

Das ist nur ein kleiner Teil von dem, was wir gesehen und erfahren haben. Nachdem wir in der stark besuchten evangelischen Kirche drei Bach-Motetten gesungen hatten, fuhren wir nach Civita-Vecchia. Leider konnten wir die etruskischen Grabhügel nicht mehr erkennen, da es zu dunkel war. Diese Nacht schliefen wir in dem Schiff, das uns in acht Stunden nach Sardinien schaukelte. Drei Stunden fuhren wir noch mit dem „Sardinien-Expreß“ durch die eigenartige Landschaft: kahles, altes Gestein, spärliches Gras, blühende Götterblumen, Lavendel und Ginster, Korkeichen, Oliven- und Eukalyptusbäume. In der Nähe von dort so seltenen Dörfern Schafe und ganz niedriger Wein. Helle, dürre Ochsen trabten geduldig zu zweit unter einem Joch und zogen Holzpflüge. Zur Überwindung der Entfernungen gibt es keine Autos. Reiche reiten auf Pferden, Arme auf Eseln. Fahrzeuge sind zweirädrige Karren - vielleicht ging die Steuer dort auch nach der Anzahl der Räder? –

In Sassari, einer alten Universitätsstadt, dem geistigen Zentrum der Insel, wurden wir angestaunt wie Weltwunder. Es gibt dort, wie in jedem besseren Dorf, eine Statue Victor Emanuels, aber auch Hochhäuser - und viel Armut. Die Menschen wohnen dort oft beinahe in Höhlen. Hinter einer halbhohen Tür und einem Vorhang spielt sich in einem dunklen Raum das Leben einer Familie ab. Alte Leute und Mütter mit ihren vielen Kindern hausen darin. Sie kochen auf offenem Feuer; die Holzkohlen werden abends auf einem Eisengestell vor die Tür gestellt. Erstaunlich ist, daß sie immer Wäsche über die Gasse hängen haben. Die einzelnen Wiesen sind von Kalksteinmauern. und oft riesenhaften Kakteen begrenzt. Aus Kalksteinen sind auch die Rundhäuser gebaut, in denen angeblich vor einigen 1000 Jahren die Urbewohner gelebt haben sollen. Unsere beiden Konzerte waren erstaunlich gut besucht. Der Beifall grenzte an Ekstase. Sogar Mönche sprangen begeistert klatschend und rufend von ihren Plätzen. Am 2. Abend dröhnte der ganze Saal von „gut“, das sich anhörte wie: „muh“. Unser Konzert war angeblich seit der Gründung des Konzertsaales das beste.

Noch einmal konnten wir einen Sonnenaufgang auf dem Meer erleben und waren dann wieder in Italien. Durch die Toscana, eine sehr fruchtbare Gegend, fuhren wir nach Siena. Der Rathausturm hat Ähnlichkeit mit dem Campanile in Venedig, und mit ihren vielen alten Palazzi ist Siena eine der schönsten italienischen Städte. Der Dom ist wie der von Pisa und Florenz im toscanischen Stil errichtet - die maurische Art, in schwarzem und weißem Marmor zu bauen, übernahm nur die Toscana. - Bei einer ikonenähnlichen Mariendarstellung zeigen sich schon Renaissancezüge, und Siena glaubt, im Streit mit Florenz, wo die Renaissance begonnen habe, zu siegen. Wir sahen auch eine Menge verschiedener Darstellungen der Lupa, die der Sage nach Romulus und Remus gesäugt hat. Am Abend sangen wir dort die Matthäuspassion.

Von unserer nächsten Station, Brescia, wo wir in einer großen Kirche den Messias sangen, sahen wir nicht viel, denn kurz vor dem Konzert kamen wir erst an und fuhren in derselben Nacht noch nach Mailand. Am nächsten Morgen sangen wir in Mailand, am Abend in Novara die Matthäuspassion. (Wie in Brescia sangen wir in einer katholischen Kirche. Die Mönche kamen nachher ganz begeistert und ließen sich Autogramme geben!)

Mailand ist die vornehmste Stadt Italiens. Der Dom mit seinen vielen Türmchen und 2000 Figuren wirkt wie ein Marmorpalast. Es ist eine der wenigen gotischen Kirchen in Italien mit den größten Glasfenstern - wunderbare Glasmalerei - südlich der Alpen. Innen ist der fünfschiffige Dom dunkel und geschlossen. Die Mailänder Scala sieht von außen ziemlich unscheinbar aus. Unser letztes Konzert gaben wir in Turin, einer bedeutungslosen Großstadt. Auch hier war das anspruchsvolle Publikum begeistert. Im Ganzen war die Konzertreise sicher ein großer Erfolg. Zwar war sie zweifellos anstrengend, aber für Herrn Professor Thomas, der sie hauptsächlich uns zuliebe unternommen hatte, bestimmt noch viel eher und außerdem bleibt doch nur das Schöne in der Erinnerung!

Durch die Schweiz fuhren wir zwischen Bergen an Seen vorbei der Heimat zu. Bei Schaffhausen bewunderten wir den Rheinfall, und dann fuhren wir in die Nacht nach Norden und in den Winter. Gegen Mitternacht kamen wir in Frankfurt an und konnten wenigstens den Frühling jetzt nochmal langsam miterleben.

Marianne Born