Wenn heute, im Jahre 1957, jemand dem Leben und Werk Helmut Walchas begegnet, so stellt sich ihm ein weitverzweigtes Wirken dar. Der jetzt Fünfzigjährige steht in einer vielfältigen Arbeit und bietet auf den ersten flüchtigen Blick das Bild eines Menschen, den die Fülle der Aufgaben, wie allenthalben im modernen Leben, zu überfordern droht. Aber wie anders, wie seltsam unmodern und einmalig sieht dieses Leben bei näherer Betrachtung aus!
Als Sohn eines Postbeamten am 27. Oktober 1907 in Leipzig geboren, wuchs er im Rahmen des sächsischen Kleinbürgertums auf und erlebte eine ungewöhnliche Jugend. Seine kontemplative Veranlagung wurde durch ein schweres Augenleiden noch vertieft und unterstrichen. Am liebsten auf sich selbst zurückgezogen, in stillen versunkenen Spielen, umgeben von dem schier unzerstörbaren Schutzwall, den die Liebe der Eltern und Geschwister um ihn zog, entfaltete sich in ihm eine seltene Kraft zur Konzentration, verbunden mit starker musikalischer Begabung. Sehr spät, erst im 13. Lebensjahr, wurde diese Musikalität beachtet und ernstlich, im Hinblick auf eine spätere Berufswahl beurteilt. Da gab es keine Frage. Nach nur einjährigem Unterricht (Klavier und Geige) bestand er die Aufnahmeprüfung am Leipziger Konservatorium, und die versteckte Quelle bahnte sich nun kraftvoll ihren Weg, vorerst den Weg zum Lernen, zum Üben, zum Einheimsen und Vollsaugen mit allem, was Musik heißt.
Die erste Begegnung mit dem Werke Joh. Seb. Bachs, zufällig entdeckt zwischen den Seiten eines Musikalbums für höhere Töchter, in Gestalt der zweistimmigen Inventionen, brachte ihm den stärksten Jugendeindruck, das Erlebnis der Polyphonie. Eine Saite in der Seele des halbwüchsigen Jungen begann mitzuschwingen, als er diesem Wunder begegnete. Die Polyphonie wurde damit für alle Zeit das Herrlichste, das Ziel! Als jüngster Orgelschüler des Instituts war er zugleich der eifrigste, nur Üben war für ihn noch leben, nur das Erlebnis der herrlichen Schätze im unscheinbaren Gewand des vielverkannten „Orgelbüchleins“, nur die Begegnung mit Bach in jeder Gestalt, auf jeder Ebene die stürmisch begehrte große Lebensfreude, ja Leben schlechthin. Das schwere Augenleiden, ein Impfschaden, das seine Jugend beschattet hatte, ihm aber trotz mancherlei Behinderung durch starke Kurzsichtigkeit den Besuch der normalen Schule, und damit das Bleiben in der Zelle der Familie erlaubte, verschlimmerte sich in den Entwicklungsjahren so, daß während der Zeit seines Musikstudiums das Augenlicht allmählich ganz erlosch. In einem Alter, in dem sonst für den jungen Menschen die Tore zur Welt aufgehen, wurde ihm die sichtbare Welt verschlossen, aber eine andere Welt wurde ihm dafür geschenkt, und diese hat er so leidenschaftlich ergriffen, wie nur je ein junger Mensch das Leben zu ergreifen vermag. So wurde seine Kraft zur Konzentration weiter entwickelt und die kontemplative Begabung vom Spiel des Kindes auf das Spiel der Musik übertragen, und so ist es geblieben bis zum heutigen Tag. Die Entfaltung dieser Fähigkeiten, das stufenweise Ergreifen immer tieferer Wesensschichten der unerschöpflichen Musik J. S. Bachs hat ihn wohl weitergeführt durch das ganze Orgel- und Cembalowerk, durch große Teile der Kammermusik, und seine Krönung gefunden im Studium der „Kunst der Fuge", aber es ist nicht beendet und wird nicht beendet werden, solange dieser leidenschaftliche musikalische Wille wirkt und strebt.
Die äußeren Daten dieses Lebens sind einfach. Mit 19 Jahren machte er die große Organistenprüfung in Leipzig und blieb danach noch zwei Jahre in seiner Heimatstadt, wo er häufig in der Motette der Thomaskirche spielte. 1929 wurde er unter 30 Bewerbern als Organist der Friedenskirche in Frankfurt a. M. gewählt, und so übersiedelte er mit 22 Jahren dahin, wo er sich alsbald selbständig machte. Neben dem täglichen Studium, das auch weiterhin der Mittelpunkt seines Lebens blieb, versah er das kirchliche Amt mit großer Freude und bereitete durch seine Gabe, mühelos und frei in vielen Formen zu improvisieren, den Besuchern der Gottesdienste große Freude. Hier in Frankfurt entfaltete sich nun aus der Zelle des kirchlichen Amtes eine vielfältige Wirksamkeit. Er veranstaltete Orgelabende, die schon damals breitere Beachtung fanden, zuerst in seiner Kirche und später, für die Hörer zentraler gelegen, in der Aula des Dr. Hoch'schen Konservatoriums. Seit dem Jahre 1929 wurde er immer häufiger aufgefordert, im Rundfunk zu spielen und 1933 übernahm er eine Dozentenstelle am Konservatorium, die 1938 zu einer Professur an der Staatlichen Musikhochschule wurde. Hinter all diesem verbarg sich eine Fülle stiller, versunkener Arbeit, das Studium immer neuer Bereiche der Bachschen Musik, der vorbachschen Meister, tägliches Üben und Unterrichten, und die Kraft zur Konzentration wuchs dabei von Jahr zu Jahr, die Konzerte wurden anspruchsvoller und der Unterricht bewußter und geformter.
Bei Ausbruch des Krieges stand Helmut Walcha schon mitten in einer voll entfalteten Wirksamkeit, die sich noch ganz auf Frankfurt konzentrierte, hier aber schon starke Resonanz fand. Mit seiner ganzen Kraft, mit allen seinen Gaben setzte er sich dafür ein, das harte Leben in den Jahren des Krieges zu durchsetzen mit den stillen Lichtern der Einkehr und Besinnung. Seine Konzerte, nun „Bachstunden“ genannt, wurden in dichter Folge geboten, und viele seiner damaligen Hörer danken ihm heute noch die Hilfe von innen, die ihnen in diesen Stunden geboten wurde. Als im Herbst 1943 und im Frühjahr 1944 seine Wirkungsstätten und alle brauchbaren Orgeln in Frankfurt zerstört wurden, ging er aufs Land in die Nähe von Hanau, wo er im Pfarrhaus bei den Eltern einer Schülerin die beste Aufnahme fand. Er spielte dort während der zwei Jahre seines Aufenthaltes sonntags in der kleinen Dorfkirche die Orgel und gab dort auch den letzten Unterricht, der für die Hochschule noch erforderlich war. Als wichtigste Arbeit aber studierte er in dieser Zeit das „Wohltemperierte Clavier“, unermüdlich zwischen den vielen Fliegeralarmen, in jeder freien Stunde, ohne auf Hunger und Müdigkeit zu achten. Das war seine geistige Nahrung neben den Gottesdiensten, und dort begann er auch seine Choralimprovisationen in Choralvorspiele umzuwandeln und aufzuschreiben, ganz aus der Praxis geboren und für diese bestimmt. Sie sind erst zehn Jahre später als kleine Sammlung „25 Choralvorspiele“ bei C. F. Peters erschienen.
Bald nach dem Krieg, schon im Herbst 1945, zog er wieder in die Stadt zurück und begann dort zu spielen, noch ehe wieder eine Orgel stand, zunächst auf einem Cembalo. Und wie dankbar waren ihm seine Hörer dafür, wie über alles Erwarten kamen sie in die kalten, feuchten, häßlich reparierten Räume und vergaßen die bös angeschlagene Umgebung, und welche Atmosphäre entstand in diesen stimmungslosen Sälen! Nun folgten die Jahre des Aufbaus, der auch zugleich Erweiterung bedeutete und dadurch alle Kräfte beanspruchte. Als erstes Institut der Musikhochschule eröffnete er seine Kirchenmusikabteilung, und dieser Zweig seiner Arbeit wurde nun wesentlich intensiver geformt. Der Unterricht und damit die Aufgabe an den jungen Menschen der Nachkriegszeit wurde mit großem Ernst und Verantwortungsgefühl erfüllt. Zugleich fing sein Wirken an, über die Grenzen von Frankfurt hinaus an Breite zu gewinnen. In vielen Städten wurden ihm Konzerte angeboten, die mit den Reisen viel Zeit und Kraft erforderten, und immer reichhaltiger wurden seine Programme. Noch vor der Währungsreform, im Frühjahr 1947, wurde ihm der große und schöne Auftrag zuteil, das ganze Orgelwerk Bachs auf Schallplatten zu spielen, und noch im Sommer desselben Jahres begann die Arbeit mit einer vierwöchigen Aufnahmezeit in Lübeck.
Natürlich stand für ihn damals der Bau neuer Orgeln im Mittelpunkt aller Interessen, ja eigentlich erstrebte er für seine Arbeit zwei gute Instrumente: Eines für seine Bachstunden in einem Saal und eines in seiner Kirche. Mit Hilfe einer Sammlung in den Reihen seiner Bachgemeinde und durch Spenden von Staat und Stadt gelang es schon vor der Währungsreform, in der Aula der Universität eine Orgel für die Bachstunden zu bauen. Das Besondere dieser Veranstaltungen, die auch heute noch dort stattfinden, kennzeichnete Helmut Walcha selbst in einem Vortrag, den er Anfang 1956 anläßlich der Feier der 150. Bachstunde hielt und der seinerzeit in diesem Blatt veröffentlicht wurde.
Besonders eifrig setzte er sich in jeder Weise durch Aufrufe und indem er für diesen Zweck Konzerte gab, für eine neue Kirchenorgel ein. Im Herbst 1946 hatte er die Organistenstelle an der einzigen großen Innenstadtkirche, die den Krieg überstanden hatte, übernommen. Die Dreikönigskirche war zwar beschädigt, aber sie war benutzbar, und auch die Orgel war nur teilweise in Mitleidenschaft gezogen. So wurde auch hier gesammelt und unter Verwendung der wertvollen Windladen, die noch erhalten waren, eine schöne Kirchenorgel erstellt. Nun wurden mit diesem Instrument die musikalischen Wochenschlußfeiern, die auf seine Veranlassung schon seit Ostern 1947 in seiner Gemeinde eingeführt waren, weiter ausgebaut, die Kantorei unter Leitung von Herrn Professor Kurt Thomas wirkte nun öfter mit. So ist eine schöne regelmäßige Pflege der Kirchenmusik damit in dieser Kirche entstanden, die Winter wie Sommer gleichmäßig ohne Unterbrechung nun schon über 10 Jahre lang besteht. Helmut Walcha spielt in diesen Stunden immer selbst, wenn er in Frankfurt ist, und läßt sich nur vertreten, wenn ihn seine Reisen dazu zwingen.
Einen weit größeren Umfang, als ursprünglich geplant, haben nun inzwischen die Aufnahmen für die Schallplatten angenommen. In Cappel bei Wesermünde wurden an der schönen Schnitgerorgel in mehreren wochenlangen Arbeitsperioden die wesentlichsten Orgelwerke Bachs aufgenommen, und diese Platten haben eine Verbreitung gefunden, wie man es vorher nicht ahnen konnte. Im europäischen Ausland haben sie große Beachtung gefunden, und auch in Amerika sind sie den Orgelfreunden zugänglich. So kann es nicht verwundern, daß sich die Konzertreisen auch vermehrt haben und öfter auch in andere Länder führen. Vor allem Dänemark, Schweden, Holland und England sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Auch unter seinen Schülern finden sich in wachsendem Maße Ausländer.
Das alles bedeutet natürlich ein Arbeitsprogramm, weiches die höchsten Anforderungen stellt, aber es wird nun nicht bewältigt, indem eine große Hast und Unruhe ausbricht, sondern durch erhöhte Konzentration und sorgfältig gewählte, im Notfall auch ernstlich verteidigte Ruhepausen, auch muß bei den vielerlei Verpflichtungen öfter eine gut überlegte Auswahl der wichtigsten Aufgaben getroffen werden. Es genügt wohl, wenn hier erwähnt wird, daß er in den Jahren 1952 und 1953 neben allem Anderen in jeder verfügbaren freien Stunde die „Kunst der Fuge“ studiert hat, die er ganz und ohne besondere Einrichtung streng nach der Partitur auf der Orgel spielt. Eine solche Leistung kann nur vollbringen, wer sich von aller Hast und Unruhe freihält, und in größter Sammlung und Ruhe arbeiten kann, denn immerhin wird ja jeder Takt dem Gedächtnis eingeprägt. Er hat sich von Jugend an das Studium nach dem Gehör angewöhnt und läßt sich von einem Werk die einzelnen Stimmen in kurzen Abschnitten einmal, höchstens zweimal vorspielen. Er baut sie dann selbst in einem gleichsam nachschaffenden Akt aus dem Gedächtnis übereinander, schafft also aus den Bausteinen der Stimmen die Partitur selbst nach. Auf diese Weise hat er dreißig Jahre lang studiert, mit 15 fing er mit dem Orgelbüchlein an und mit 45 Jahren als letztes der Bachschen Werke, eignet er sich noch dieses Wunderwerk der Polyphonie, die „Kunst der Fuge“ an, und während, gleichsam als Krönung seines Studiums, diese herrlichen Fugen ihm durch Geist und Herz zogen, da war es ihm doch anzumerken, daß die Tatsache, nun am letzten Werk des großen Thomaskantors angekommen zu sein, ihn mit Trauer und Wehmut erfüllte. Das war ein wahrhaft würdiger Abschluß dieser unermeßlichen Arbeitsfülle und ein Beweis dafür, daß in der Mitte seines Lebens die Konzentration aller Kräfte steht, und alles andere nur eine Folge dieser seltenen Gabe der Versenkung darstellt.
Wenn nun zum Schluß noch von den Zukunftsplänen gesprochen werden soll, so ist als nächste größere Arbeit die Aufnahme der Kunst der Fuge für Schallplatten zu nennen, und danach sollen auch die solistischen Cembalowerke von J. S. Bach noch eingespielt werden. Das sind natürlich größere Arbeitskomplexe, deren Ausführung sich über Jahre erstrecken kann. Daneben besteht die Absicht, die Choralvorspielsammlung zu vervollständigen und weitere Hefte erscheinen zu lassen. Die Orgelbaupläne dürfen natürlich bei einem richtigen Organisten auch nie aussterben, und so sind auch schon Bestrebungen im Gange, 1. für die Musikhochschule eine neue Orgel zu bekommen, denn der Unterricht ist heute noch in der Kirche, da die Hochschule seit der Kriegszerstörung nur kleine Übungsinstrumente besitzt, und 2. ist die Aula der Universität bei den Bachstunden heute so überfüllt, daß man nach einem größeren Rahmen Ausschau halten muß und in diesem Zusammenhang nach einer neuen Orgel, die dem heutigen Stande der Entwicklung entspricht und das braucht man ja wohl nicht erst ausdrücklich zu betonen, daß das nur eine mechanische Schleifladenorgel sein kann! Denn wer wie Helmut Walcha mit alten Orgeln vertraut ist, für den gibt es nichts Schöneres als den klaren durchsichtigen Orgelklang.
Zum Schluß soll noch ein kurzes Wort über seine Haltung in der Frage der Werkauswahl gesagt werden, das vielleicht Aufschluß geben kann über die Gründe der bekannten und oft mißverstandenen Tatsache, daß Helmut Walcha außer den Werken J. S. Bachs im wesentlichen nur die vorbachschen Meister spielt und nur selten zeitgenössische Musik. Für ihn gibt es kein unverbindliches Musizieren, wobei sich der Interpret mehr oder weniger von der Musik, die er spielt, distanziert. Wenn er sich für ein Werk einsetzt, so bedeutet es ihm zugleich ein geistiges Bekenntnis, denn alles, was er spielt, eignet er sich so an, daß es zugleich ein künstlerisches und geistiges Bekenntnis wird, und so ist es wohl auch zu verstehen, daß diese klar profilierte Künstlerpersönlichkeit solch starke Wirkung ausstrahlt.
Ursula Walcha.