Die 150. Bachstunde am 11. Januar 1956

Rückblick und Ausblick von Helmut Walcha im Dreikönigsboten Nr. 2 / 5. Jahrgang, Februar 1956

Lassen Sie mich am Tage der 150. Bachstunde zunächst das Wort ergreifen zu einem Rückblick auf die Vergangenheit und einem Ausblick in die Zukunft unserer Bachstunden.

Der erste Niederschlag der geistigen Ergebnisse jener Neubesinnung im Orgelbau und Orgelspiel, wie sie in Deutschland in den Jahren zwischen 1920 und 1930 einsetzte und die wir heute kurz „Die deutsche Orgelbewegung“ nennen, war der Umbau der alten Saalorgel des Dr. Hochs Konservatoriums, der mir im Herbst 1936 gelang. Mit diesem klanglich neugestalteten Instrument wagte ich es, im Winterhalbjahr 1938 - 39 zum ersten Male in Frankfurt in acht Veranstaltungen nur Werke von J S. Bach zu bringen. In zwei dieser Abende wurden auch bereits Cembalowerke und Kammermusik des Meisters eingesetzt, und damit waren die Frankfurter Bachstunden begründet, die im darauffolgenden Winter auch diesen Namen erhielten.

Nun begann der Krieg, und es traten mit ihm äußere Schwierigkeiten der Fortsetzung dieser Arbeit entgegen. Wegen der Verdunklung mußte ich mit diesen Veranstaltungen auf den Nachmittag gehen und damit zwangsläufig auf den Sonntag. Auch werbetechnisch stellten sich Schwierigkeiten ein, und so gab ich einfach bekannt, daß ich sonntags 17 Uhr im Saal des Hochschen Konservatoriums Bach spielte. Wenn auch immer Hörer da waren, so zeigte es sich doch, daß der Umfang der Veranstaltungen, die vier Monate hindurch jeden Sonntag stattfanden, für Hörer und Spieler etwas zu reichlich bemessen war. Deshalb wurden im kommenden Winterhalbjahr 1940 - 41 zwölf Veranstaltungen geplant, die regelmäßig alle zwei Wochen an den Sonntag-Nachmittagen stattfanden. Dies blieb so bis zur Zerstörung dieses Saals beim ersten großen Luftangriff am 4. Oktober 1943. Die Bachstunden mußten nun in diesem Winter aufhören, da die Kirchen ungeheizt waren und sonst keine entsprechende Orgel mehr zur Verfügung stand, und ich setzte im Sommer 1944 in der Erlöserkirche in Bad Homburg die Bachstunden fort, bis auch dies unmöglich wurde.

Im Oktober 1945 sammelte ich nun zum ersten Male nach dem Kriege wieder die Hörer in einer Turnhalle einer Bockenheimer Schule, und sie waren da, ja, sie kamen geströmt. Ich spielte ihnen Cembalo vor, was ich in den weiteren Jahren 1946 und 1947 ausschließlich tun mußte, da keine Orgel in Frankfurt zur Verfügung stand. Ich kämpfte mit meiner Bachgemeinde zusammen sehr um die Errichtung einer Orgel in der Universitätsaula, was schließlich gelang, und so konnte am 4. Oktober 1947 diese Orgel hier eingeweiht werden. Damit wurden nun die Bachstunden wieder im Winterhalbjahr durchgeführt, die Programme wieder reicher gestaltet, und bald auch die Veranstaltungen auf den Mittwoch Abend gelegt, ihren ursprünglichen Wochentag, den sie bereits 1938 hatten.

Jetzt galt es für mich, die Frankfurter Arbeit in Übereinstimmung mit den immer größer werdenden auswärtigen Verpflichtungen zu bringen, und so mußte ich die Zahl der Veranstaltungen innerhalb eines Winterhalbjahres mehr und mehr zurücksetzen. Im Bachjahr mußte ich aus diesem Grunde noch einmal mit den Bachstunden in Frankfurt ganz aussetzen, aber dann war der Weg mit drei Bach- stunden vor Weihnachten und drei nach Weihnachten gefunden. So soll es nun bleiben, denn auch der ganze Programmaufbau der Bachstunden hat sich dementsprechend herausgebildet. Über ihn soll ein kurzes Wort gesagt werden. Dieser Werkkanon der Frankfurter Bachstunden umschließt 165 Werke, die auf vier Jahre verteilt, regelmäßig wiederkehren. Die regelmäßige Pflege dieser Musik ist einer der Grundgedanken meiner Bachstunden. Ist es doch den musikempfänglichen Studenten möglich, im Laufe ihres Studiums jedem dieser Werke einmal zu begegnen, und den beständigen Hörern der Bachstunden werden mit der Zeit diese Werke von Jahr zu Jahr vertrauter und mancher unter ihnen vielleicht auch zu guten Bekannten. Ein weiterer Grundgedanke der Bachstunden ist es, dem Hörer durch kurze Einführungen bei der Begegnung mit diesen Kunstwerken behilflich zu sein. Diesem Umstand mag es vielleicht besonders zu danken sein, daß die Hörergemeinde der Bachstunden von Jahr zu Jahr wächst, denn die Begegnung mit dieser Musik wird für viele zweifellos nachhaltiger, wenn beim Hören schwerverständlicher Werke kleine Hilfen durch das gesprochene Wort gegeben werden. Damit komme ich zu einem weiteren grundsätzlichen Gedanken der Bachstunden, nämlich der Durchführung dieser Veranstaltung in einem Saal. Das ist zunächst äußerlich damit begründet, daß man hier unbefangen in die Werke einführen kann, aber schließlich auch mit der Werksauswahl selbst, denn es wird ja das Klavierwerk Bachs und die Kammermusik gleichberechtigt neben die Orgelwerke des Meisters gestellt. Aber auch ein dritter Grund, der für den Saal spricht, soll nicht übersehen werden, denn es liegt mir daran, daß nicht nur Angehörige beider Konfessionen unbefangen diese Bachstunden besuchen möchten, sondern auch die Menschen, die weithin alle Bindungen zur Kirche verloren haben. Schließlich muß im Hinblick auf die Werksauswahl die die 165 Werke des Programmkanons bestimmt hat, erwähnt werden, daß nur bedeutsame und wesentliche Werke des Bach'schen Orgel- und Cembaloschaffens aufgenommen werden konnten. Auch fand nur ein kleiner Ausschnitt aus der Kammermusik seinen festen Platz, nämlich die 6 Sonaten für Violine und Cembalo, die 3 für Gambe und Cembalo und schließlich einige Flötensonaten. Auch die Orgelmusik v o r J. S. Bach konnte nur mit wesentlichen Spitzenwerken eingereiht werden. Besonders hervortretende Werke im Bach'schen Orgel- und Klavierwerk wurden überhaupt aus dem Werkkanon herausgenommen, weil es mir wichtig erscheint, diese Werke häufiger zu Gehör zu bringen als alle vier Jahre nur einmal. Das gilt besonders von der sogenannten Orgelmesse, den 45 Chorälen des Orgelbüchleins und schließlich besonders auch von den Goldbergvariationen. Auch blieben viele Werke der Kammermusik, die im Konzertsaal häufiger zu hören sind, unberücksichtigt, weil für sie eine solch geregelte Pflege an diesem Platz nicht zwingend erscheinen.

Abschließend möchte ich sagen, bei der Rückschau auf diese Arbeit doch recht bewegt, daß ich es als ein besonderes Geschenk ansehe, diese meine Bestrebungen, vor 20 Jahren begonnen, heute in den Frankfurter Bachstunden so erfüllt zu sehen. Fast bekommt diese besondere Art der Musikpflege des Bach'schen Werkes in Frankfurt schon Tradition und die Frankfurter Bachstunden sind zu einem Begriff geworden.

Ein Wunsch bliebe noch, der heute ausgesprochen werden soll, es ist eigentlich ein doppelter Wunsch. Einmal legt die häufige Überfüllung des Saales das Verlangen nach einem größeren Saal nahe, und zum anderen wäre die Schaffung einer für diese Arbeit idealen Orgel dringend erforderlich. Vergessen wir nicht, daß diese Orgel vor der Währungsreform erbaut wurde, daß in ihr alte Restbestände der früheren Musikhochschulorgel zur Verwendung kamen, diese wiederum 1936 auch nur ein Umbau einer ganz schlechten Orgel aus dem Jahre 1911 war, so wird Ihnen verständlich werden, daß ich mir im Jahre 1956 nun einmal eine neue mechanische Schleifladenorgel für die Bachstunden wünsche. Kaum wird es Sie überraschen, wenn ich sage, daß ich bereits ein Auge auf das geplante neue Haus, das die Universität zur Schaffung einer größeren Aula errichten will, geworfen habe. Sollten sich bei diesem Neubau nicht beide Wünsche der Frankfurter Bachstunden erfüllen lassen? Allen Angehörigen der Universität, die heute hier anwesend sein mögen und die vielleicht Einfluß auf die Schaffung der neuen Universitätsaula nehmen können, sei diese meine Bitte nachdrücklich gesagt. Auch die Presse kann mir behilflich sein, diesen Gedanken zu verbreiten und zu festigen. Vielleicht wird man dann eines Tages garnicht anders können, als eine schöne, neue Schleifladenorgel in die neue Universitätsaula zu bauen. Wenn sich dieser Wunsch erfüllen sollte und Sie mich dann später einmal fragen möchten, ob ich im Hinblick auf die Bachstunden noch einen Wunsch hätte, dann werde ich bestimmt sagen können: Nein. Nur dieser Wunsch bleibt immer, so lange ich spielen kann: daß sich weiterhin zahlreich die Menschen zum Hören einfinden, und daß von der ordnenden Kraft, die aus christlicher Glaubensmitte kommend diese Werke schuf, auf sie etwas überspringen möchte. Denn dieser Kräfte bedürfen wir alle in unserer Zeit, besonders, wo die Technik mehr und mehr alle Lebensgebiete erfaßt und der innere Mensch unter solcher Entwicklung immer mehr verkümmert und kaum noch Antwort auf seine Fragen in den Erscheinungen dieser Zeit findet.

Helmut Walcha