3. Der barmherzige Gott ist auch der gerechte Gott.
Reue über begangenes Unrecht ist der Anfang des Gerichts und in der Vergebung offenbart sich das gesamte Leben auch in seiner Gebrochenheit. Die christliche Hoffnung zielt auf Vergebung im Diesseits, auch wenn die Vollendung erst im Jenseits sein kann.
Der barmherzige Gott ist auch der gerechte Gott. Vergebung macht falsche, böse oder unrechte Taten nicht einfach ungeschehen. Die Rede vom Vorrang der Person vor ihren Werken kann ja schwerlich so verstanden werden, dass die Taten im Rechtfertigungsgeschehen und ganz konkret im Akt der Vergebung einfach vergessen, weggeschoben und zugedeckt werden. Doch scheint hier das Dilemma vorzuliegen, dass Gott entweder barmherzig oder gerecht ist, aber kaum beides zugleich. Christliche Verkündigung steht dabei nicht selten in der Gefahr, dieses Dilemma einseitig aufzulösen, und den umfassenden Gottesbegriff auf die Rede vom lieben Gott zu verkürzen. Eine solche Reduktion tritt dann oft in der Kombination mit einem Heilsautomatismus auf. Sarkastisch brachte der Dichter Heinrich Heine das Problem auf den Punkt:
„Gott wird mir vergeben. Das ist ja sein Beruf“. Die Rede vom barmherzigen, lieben Gott ist so gesehen einseitig, und schon das neutestamentliche Gottesbild bewahrt vor dieser Simplifizierung. Das Kreuz selbst ist das unübersehbare Symbol dafür, dass es der barmherzige Gott ist, der Gerechtigkeit fordert. Es ist geradezu das Besondere des christlichen Gottesbegriffs, dass hier nicht Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als zwei entgegengesetzte Bestimmungen gedacht werden, sondern dass der sich der barmherzige Gott als der gerechte erweist. Wo immer Gott Gnade übt, findet auch ein Akt des Richtens statt. Gnade und Gericht können nicht voneinander getrennt werden. Die Vergebung vor Gott besteht gerade darin, dass in ihm ein Leben in seiner Ganzheit offenbar wird, in seiner Gebrochenheit und in seinen Verfehlungen. Das Gericht deckt die Taten auf. Das Gericht, das die Taten ans Licht bringt, kann sehr wohl seinen Anfang nehmen bereits in innerweltlichen Vorgängen, in der Erfahrung von Schuld und in der Einsicht nicht der zu sein, der man gerne wäre. Man wird in diesem Sinne Reue als den Anfang des Gerichts verstehen können. Es ist aber nach christlichem Verständnis schlechterdings nicht möglich, von einer vollständigen innerweltlichen Realisierung des göttlichen Gerichts auszugehen. Die Geschichte kommt nach christlichem Verständnis nicht in dieser Welt zu ihrem Ziel. Es mag vom Standpunkt des modernen Denkens eine durchweg unbefriedigende Antwort sein, aber ohne Substanzverlust kann das Christentum die Hoffnung auf eine jenseitige Vollendung nicht aufgeben. Damit ist ein Vorbehalt gegen alle irdischen Formen des Gerichts ausgesprochen.