I. Versöhnung und Vergebung


Der Begriff der Vergebung ist theologisch gebunden an den Begriff der Versöhnung. Wollte man die christliche Religion in all ihren vielfältigen Erscheinungsformen auf einen zentralen Begriff bringen, so ließe sie sich als eine Religion der Versöhnung beschreiben. In der Sprache der Bibel wird davon erzählt, wie durch die Person Jesu Christi die Menschen mit Gott versöhnt werden. Versöhnung setzt freilich eine Defiziterfahrung voraus. Es muss etwas geben, was versöhnt werden muss. Und in der Tat ist es ein weiterer zentraler Bestandteil des Christentums, dass es den Blick dafür schärft, wie der Mensch sein Leben in Gottesferne, in innerer Zerrissenheit und Entfremdung führt, wie er Schuld auf sich lädt. Man spricht in der theologischen Tradition von der Sünde und meint damit, dass Menschen nach christlichem Verständnis nicht das sind, was sie sein könnten. Versöhnung ist die Überwindung dieser Entfremdung des Menschen von sich selbst. Wird der Mensch mit Gott versöhnt, so kommt er letztlich auch zu sich selbst. Der Mensch kann dabei nach christlichem Verständnis diese Entfremdung und Zerrissenheit aus eigener Kraft nicht überwinden, die Hilfe zur Versöhnung kommt ihm von außen zu. Im Geschehen der Versöhnung erfährt er an sich und in sich das Wirken einer Macht und Kraft, die größer ist als er selbst. Man spricht daher in der Geschichte des Christentums mit dem spezifischen christlichen Vokabular von einem göttlichen Gnadenhandeln am Menschen.

Der Protestantismus hat diesen zentralen Gedanken im Anschluss an Martin Luther in der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders zum Ausdruck gebracht. Diese Lehre lässt sich in aller Knappheit so zusammenfassen. Was immer wir sind, sind wir nicht aus uns selbst. Schon die bloße Tatsache unseres Lebens verdanken wir nicht uns selbst, ebenso wenig die Umstände unseres Lebens. Wir wissen uns ohne unser eigenes Zutun aufgehoben in einer uns wohlwollend umfangenden höheren Ordnung. Unser Leben ist immer mehr, als wir ihm selbst mit all unseren Anstrengungen und Mühen geben können. Es ist dieses göttliche Wohlwollen, das den Kern und die Würde unserer Person ausmacht – nicht die Leistungen und Errungenschaften oder aber auch die Vergehen und Fehler unserer Lebensführung.

Für unseren Zusammenhang liegt die besondere Pointe der Rechtfertigungslehre darin, dass die Reformatoren, allen voran Luther eine Bedeutung menschlicher Handlungen und Taten, kurzum menschlicher Werke, für das Rechtfertigungsgeschehen unbedingt ausgeschlossen wissen wollten. Mit Blick auf die Rechtfertigung konnte Luther dezidiert formulieren: „Das Werk, das ich tue, macht die Person nicht zu der Person, die ich bin:opus non facit personam“1 . Natürlich wollte Luther damit keinem ethischen Indifferentismus das Wort reden, so als ob es ganz gleichgültig wäre für die Rechtfertigung, was immer wir tun. Aber ganz offensichtlich war ihm daran gelegen, Person und Werk zu trennen. Jedem Personsein kommt Geschenkcharakter zu, d.h. dann auch dass die Würde und der Wert einer Person immer mehr ist, als diese Person in ihren Handlungen und Taten überhaupt realisieren kann. So kann Eberhard Jüngel in seiner Verteidigung der reformatorischen Rechtfertigungslehre feststellen: „Die Rechtfertigung des Sünders verbietet es, die beste Tat, aber auch die schlimmste Untat, mit dem Ich zu identifizieren, das sie tat“. Hinter jeder Lebensgeschichte gilt es „die menschliche Person [zu] entdecken, deren sich Gott selber erbarmt“2. Die Versöhnung zwischen Gott und Mensch wirkt sich nach reformatorischem Verständnis als Rechtfertigung aus. Diese rechtfertigende Annahme der Person bedeutet immer auch Vergebung. Vergebung ist eine Konkretion des Versöhnungs- und Rechtfertigungsgeschehens. Diesen Gedanken möchte ich in fünf Punkten präzisieren: