Bei der Diskussion am dritten Abend traten in der Argumentation der Unterzeichner des Aufrufs vielfach wieder jene Züge hervor, die auch in ihren früheren schriftlichen Äußerungen festzustellen waren: eine schwer erträgliche Selbstgerechtigkeit, verbunden mit einem moralischen Maximalismus, dem selbst für unvermeidliche Schuldverstrickungen in der NS-Zeit jegliches Verständnis zu fehlen scheint. Hinzu trat abermals die bereits bekannte denunziatorische Tendenz.
Dafür nur ein kleines Beispiel: Die empörte Frage eines der Unterzeichner, warum Thomas in jenen Jahren nicht öffentlich erklärt habe, daß die Idee des Musischen Gymnasiums auf den Juden Leo Kestenberg zurückgeht. Ich habe die Frage in der Diskussion als „naiv“ bezeichnet, weil sie die Lebenswirklichkeit der Jahre 1939-45 schlicht verleugnet. Zu dieser Lebenswirklichkeit gehören aber - wie der Fragesteller sehr wohl weiß - die Ausgrenzung der Juden aus dem öffentlichen Leben, der gelbe Stern, die Vornamen Israel und Sara, die Ausplünderung der Juden, die Konzentrationslager und das weit Schrecklichere, was dann noch folgte. Ebenso gehört zu dieser Realität, daß Juden im öffentlichen Leben nur dann erwähnt wurden, wenn es darum ging, sie zu beschimpfen oder vernichtende Kritik an ihnen zu üben. Selbstgerecht erscheint mir eine solche Frage, weil sie den Eindruck zu erwecken sucht, daß jeder anständige Mensch, und gewiß auch der Fragesteller selbst, sich sogar unter den damals herrschenden Verhältnissen öffentlich zu Kestenberg als Urheber der Idee des Musischen Gymnasiums bekannt hätte. Ob er dieser selbstgestellten Forderung damals wohl nachgekommen wäre? Selbst in diesem gewiß nicht zentralen Punkt hätte solche Haltung damals ein Maß an Mut erfordert, das man schwerlich einklagen kann.
Der Grundtenor des Aufrufs geht offenbar dahin, daß die Gedenkplakette eine Ehrung darstelle. Ehrungen aber dürften keiner Persönlichkeit zuteilwerden, die in leitender Funktion in der NS-Zeit gewirkt habe. Mir erscheint diese Schlußfolgerung nicht zwingend. Ich sah und sehe noch immer die Tafel in erster Linie als Erinnerung an eine denkwürdige Phase der Frankfurter Musikgeschichte der Nachkriegszeit, in der die Dreikönigskirche zu einem der wichtigsten Zentren des Musiklebens der Stadt wurde und zugleich zu einem Zentrum musikalischer Bildung junger Menschen durch Chorgesang - lange bevor Universität, Konservatorium und Musikhochschule einen einigermaßen geregelten Betrieb wieder aufnehmen konnten. Jeder musikinteressierte Frankfurter Bürger, der diese Jahre hier erlebte, kann das bestätigen.
Der Rigorismus, mit dem Verfasser und Unterzeichner des Aufrufs die Anbringung der Gedenktafel ausschließen möchten, scheint mir gerade im Fall von Kurt Thomas unangebracht. Er berücksichtigt weder seine frühen kompositorischen Leistungen noch seine verdienstvolle Tätigkeit als Herausgeber der „Geistlichen Chormusik 1648“ von Heinrich Schütz in 29 Heften (Breitkopf&Härtel 1930), weder sein international verbreitetes dreibändiges „Lehrbuch der Chorleitung“ (Bd. I: 1935, Bd. II: 1937, Bd. III: 1948) noch seinen internationalen Rang als Chorerzieher. Vor allem aber läßt dieser Rigorismus sein bedeutsames Wirken in der Nachkriegszeit, an das die Gedenktafel erinnern soll, völlig außer Acht.
Die bewußte Einengung der öffentlichen Diskussion auf die fünf Jahre von Thomas’ Tätigkeit als Leiter des Musischen Gymnasiums, ihre z. Tl. agitatorische Verzerrung, die selbst vor verfälschenden Zitaten aus dem Buch von Werner Heldmann oder aus anderen Quellen nicht zurückscheute, hat gleichwohl nur wenig zutage gefördert, was die bleibenden künstlerischen und pädagogischen Verdienste von Thomas ernsthaft beeinträchtigen könnte. Kennzeichnend für die einseitige Verfahrensweise der Verfasser des Aufrufs erscheint mir auch die Tatsache, daß entlastende Momente unberücksichtigt bleiben. Erwähnt sei die von Thomas riskierte Aufnahme von Schülern und Lehrern, die nach damaligem Sprachgebrauch nicht „rein arischer“ Herkunft waren, ins Musische Gymnasium - so unter den Schülern der später als Cellist bekanntgewordene Klaus Storck, unter den Lehrern der später an der Stuttgarter Musikhochschule tätige Pianist Prof. Jürgen Uhde.
Es erscheint mir ungerecht, die Lebensleistung eines Künstlers in dieser Weise auf wenige Jahre zu reduzieren, die ihn entlastenden Momente zu ignorieren und ihn zum Vertreter des NS-Regimes zu stempeln. Die eingehende und kritische Untersuchung seiner Zeit als Leiter des Musischen Gymnasiums hat keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, daß er an den Verstößen des NS-Systems gegen Recht und Menschlichkeit in irgendeiner Form beteiligt gewesen sei. Weder in seinen Büchern noch in von ihm verfaßten Zeitungsartikeln findet sich auch nur eine einzige Passage, in der Unterwürfigkeit oder gar Lobrednerei gegenüber dem Regime zum Ausdruck käme. Im Gegenteil: In den beiden ersten Bänden seines Lehrbuchs der Chorleitung (erschienen 1935 und 1937) hat er Beispiele aus Werken zweier seit 1934 verfemter Komponisten aufgenommen (Günther Raphael und Heinrich Kaminski).
Mag Thomas auch in äußeren Dingen abhängig von den Vorschriften der ihm vorgesetzten Behörden gewesen sein, so hat er doch in der Leitung des Gymnasiums seine Aufgabe als Pädagoge und Musiker so gut erfüllt wie es in jenen Jahren möglich war. Wie schwer das war, läßt sich heute kaum mehr ermessen. Pauschalurteile können der zur Diskussion stehenden Frage gewiß nicht gerecht werden.
Frankfurt am Main, 21. November 2004
Peter Cahn