6. Einordnung von Kurt Thomas
Differenzierter Umgang mit der Vergangenheit in ihrem Facettenreichtum.
Sechstens: Die Einsicht in die unschuldige Schuldigkeit unseres Daseins mag für einen versöhnlicheren Umgang mit der Vergangenheit stehen, sie beantwortet aber noch nicht die Frage, um die es im Eigentlichen geht: die Frage nach einer Gedenktafel für Kurt Thomas. Denn aus der Erkenntnis, dass wir selbst vielleicht nicht anders gehandelt hätten, kann nicht schon von selbst die Notwendigkeit eines ehrenden Andenkens abgeleitet werden. Gleichwohl regt diese Einsicht dazu an, mit der Vergangenheit differenzierter umzugehen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass man in der Entstehungszeit der Bundesrepublik einen möglicherweise großzügigen Umgang mit der eigenen Vergangenheit gepflegt hatte. Viele Eliten in Kultur und Wirtschaft und auch in Politik haben ihre Karriere bruchlos in der Bundesrepublik fortgesetzt, die Liste der Namen, an die hier zu erinnern wäre, ist lang. Es ist zweifelsohne ein Verdienst antifaschistischer und antinationalsozialistischer Bewegungen und Gruppen, den Blick für diese allzu bruchlosen Übergänge geschärft zu haben. Hier wurde Vergangenheit einfach zugedeckt in der Hoffnung, sie möge dem Vergessen anheim fallen. Hier wurde jenes ‚schlechte Vergessen‘ praktiziert, von dem vorhin die Rede war.
Trotz dieser unbestreitbaren Verdienste der antifaschistischen Bewegungen gibt es allerdings auch so etwas wie eine antifaschistische Ideologie, die dann ungerecht wird, wenn sie kalte Prinzipien den Lebensgeschichten von Menschen überordnet. Nach dieser Logik muss jeder Amtsträger im Nationalsozialismus mit einem Verbrecher und willigen Vollstrecker gleichgesetzt werden. Das ist kein sachgemäßer Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Er nivelliert einzelne Lebensgeschichten und stellt sie allesamt unter das Verdikt einer Kollektivschuld. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind damit an jenen Punkt angelangt, der die Diskussion um Kurt Thomas so brisant macht. An ihr wird exemplarisch der schwierige Umgang mit der eigenen Vergangenheit sichtbar. Dazu gibt es auch in jüngerer Zeit eine Reihe von Debatten (Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Walser – Bubis- Debatte, 60 Jahre Normandie). Es ist dabei noch einmal grundsätzlich an das eingangs Gesagte zum Thema der Versöhnung und Vergebung zu erinnern. Vergebung ist nichts, was erzwungen werden kann oder wozu sich Menschen willentlich einfach entschließen könnten. Zu einem solchen versöhnten Blick auf die Vergangenheit gehört es, sie nicht zu vergessen, sondern die Erinnerung an sie wach zu halten. Zu Erinnerung gehört es, der Vergangenheit in all ihrem Facettenreichtum gerecht zu werden. Jede Lebensgeschichte bedarf hier ihrer eigenen Würdigung, die Rede von einer Kollektivschuld, die die Menschen in Täter und Opfer einteilt, greift zu kurz. Wir haben es mit grausamen Tätern, mit willigen Vollstreckern, mit zuschauenden Sympathisanten, mit wegschauenden Mitläufern, mit stillen Oppositionellen, mit inneren und sichtbaren Emigranten, mit Helden des Widerstands und mit vielen, vielen Opfern zu tun. Irgendwo dazwischen finden wir das Einzelschicksal Kurt Thomas.