5. Unschuldig Schuldig?
Kurt Thomas - kein "williger Vollstrecker".
"Unschuldig - schuldig" - keine selbstgerechte Schuldzuweisung sondern Grundsignatur unserer Existenz und allgemeiner menschlicher Makel.
Fünftens: Mit dieser Einordnung ist Kurt Thomas kein Einzelfall, er ist einer von vielen. Wir haben es hier eben nicht mit jenen Nazischergen, Massenmördern und Menschenverachtern und auch nicht mit den willigen Vollstreckern zu tun, die soviel unendliches Leid über die Menschheit gebracht haben. Der Aufruf vom Mai gegen die Gedenktafel irrt m. E., wenn er Thomas in die Kategorie der willigen Vollstrecker einordnet (ein undifferenziertes und historisch nicht haltbares Urteil). Wir haben es vielmehr bei Kurt Thomas mit der vermutlich überwiegenden Mehrheit der Deutschen zu tun, die sich von 1933 bis 1945 in ähnlicher Weise verhielt. Man richtete sich ein und arrangierte sich mit den Machthabern. Mit Blick auf den fehlenden Mut und dieses Sich-Einrichten hat man in der Diskussion um Kurt Thomas davon gesprochen, er habe sich „unschuldig schuldig“ gemacht wie so viele, die damals lebten. Der Begriff ‚unschuldig schuldig’ trifft die Sache ziemlich gut, doch birgt auch er Gefahren in sich – nämlich dann, wenn sich dahinter eben jene selbstgerechte Schuldzuweisung verbergen sollte. Unschuldige Schuldigkeit ist nichts, womit wir mit einem Finger auf andere zeigen, unschuldige Schuldigkeit ist eine Grundsignatur unserer Existenz überhaupt, die damals in besonders eklatanter Weise zum Vorschein kam. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte sich vielleicht nicht jeder, aber fast jeder von uns, die wir hier heute sitzen, in jenen Zeiten ähnlich verhalten. Dieser fehlende Mut im Angesicht der Gefahr um Leib und Leben ist ein menschlicher Makel, der uns alle trifft. Selbstgerechte Überhebung von Spätgeborenen, die das Glück hatten, in jenen Zeiten nicht leben zu müssen, ist hier nicht am Platz. Wenn wir auf uns selbst blicken, auf die großen Ungerechtigkeiten und Verfolgungen dieser Welt, die wir in unserer Bequemheit bedenkenlos zu erdulden bereit sind, dann ist es einigermaßen absurd zu fragen, warum diese Menschen damals nicht mehr und nicht energischer dem Bösen widerstanden haben. Es ist eine Sache, sich im Jahre 2004 einen Antifaschisten zu nennen, es ist eine ganz andere, das gleiche im Jahre 1944 zu tun.
Damit will ich keinesfalls denen das Wort reden, die gerne ein für allemal unter der deutschen Vergangenheit einen Schlussstrich ziehen wollen. Vergebung heißt gerade nicht vor allem einfach nur die Augen zu verschließen, ja es muss noch einmal daran erinnert werden, dass es gerade im Umgang mit der Vergangenheit Fälle geben kann, die zu vergeben, alle menschliche Kraft übersteigt.
Zu einem versöhnten Umgang mit der Vergangenheit gehört es aber auch, die Schuldhaftigkeit unserer Existenz einzusehen. Unschuldig schuldig sind wir alle, wir werden es in je unterschiedlicher Weise unter den jeweils anderen Umständen unseres Lebens – und darum gilt das berühmte Wort der Bergpredigt: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet – Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge. Die Erinnerung an jene Zeit ist kein Anlass zu selbstgerechter Überhebung, sie ist vor allem deshalb so hilfreich, weil sie uns einen Spiegel vor Augen hält. Im Verhalten unserer Väter und Mütter, Großväter und Großmütter erkennen wir unsere eigene, vergebungsbedürftige Schwäche wieder, die – ich erinnere noch einmal daran – das Christentum in seinen liturgischen Vollzügen täglich an zentraler Stelle zum Ausdruck bringt: Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.