Organist an der Dreikönigskirche Frankfurt am Main 1946 – 1981
Gehalten am Sonntag, 16. Mai 2004, 17 Uhr, in der Dreikönigskirche von KMD Prof. Hermann Harrassowitz.
Beim Tod von Helmut Walcha 1991 hat Wolf Eberhard von Lewinski formuliert: „Helmut Walcha ist aus der Interpretationsgeschichte der Orgel im 20. Jahrhundert nicht wegzudenken“. Er war stilprägend: Weg von romantischer Tradition schuf er auf historisch orientierten Orgeln ein neues Bachbild. Die Polyphonie Bachs mit ihren strengen Gesetzen und ihrer substantiellen Durchformung in allen Stimmen hat ihn sein Leben lang gefesselt und begleitet. Hören wir Walcha selber: „In Bachs Instrumentalmusik herrschen starke vokale Kräfte. Nur von der vokalen und instrumentalen Seite her wird man Bach gerecht: Er singt auf dem Instrument und spielt mit der Stimme“. Das war neu und prägend. „Wenn man singt, muss man atmen. Deshalb verlange ich, dass man bei der Polyphonie mitsingt.
Ich sah, dass die Bach’sche Polyphonie ein vielstimmiges Gebilde von unglaublicher innerer Logik ist. Ich glaube, dass sie den Menschen zur Kontemplation führt. Er muss nach innen schauen, von außen kommt nichts auf ihn zu.
Beim Registrieren muss die Farbwahl der musikalischen Aussage folgen. Solange ein Motiv führend ist, bleibt es bei einer Klangfarbe, beim nächsten Motiv zeigt ein Farbwechsel an, dass etwas Neues vor sich geht.“
Der Romantik stand er sehr reserviert gegenüber. Wie bekannt, spielte er keinen Reger mehr, obwohl er als Student einiges studiert hatte. Mit seiner Sicht von Polyphonie war diese Musik nicht vereinbar. Daß er Regers Orgelkompositionen abgelehnt hat und nicht mehr unterrichtete, haben viele nicht verstanden. Er hatte für seine Person dafür gute Argumente, die aber auf Andere kaum zu übertragen waren. Es ist müßig, das heute zu wiederholen. Wir haben 1953 als Studenten all dies hautnah miterlebt.
Seine ganze Konzentration galt nun einmal dem Bach'schen Werk. Den alten Meistern und wenigen neuen Komponisten, wie etwa Hessenberg und Hindemith, hat er sich ebenso liebevoll angenommen. Diese Beschränkung, die auch in seiner Blindheit begründet war, gab ihm eine große künstlerische Aussagekraft und Autorität. Er galt lange Zeit als der Bachinterpret schlechthin.
Mehrfach wurde er ausgezeichnet: So erhielt er etwa 1957 die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am Main und später das große Bundesverdienstkreuz mit Stern.
Er hatte seine festen musikalischen Prinzipien, die er überzeugend vertrat, war aber tolerant gegenüber anderen Meinungen, auch wenn er sie nicht für gut hielt. Als Mensch war er zurückhaltend und bescheiden, fast demütig, aber bewusst seines eigenen Wertes. Freiwillig beendete er 1981 seine öffentliche Konzerttätigkeit in der Dreikönigskirche, auf dem Höhepunkt seiner Karriere: Ein Schritt von außergewöhnlicher menschlicher Größe. Er wusste seine Fähigkeiten und seine Grenzen sehr gut einzuordnen.
Eine Bach'sche Suite, vier Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier,
P a u s e
eine weiter Suite, weitere vier Präludien und Fugen.
In der Hochschule hielt er regelmäßige Vorlesungen über das Wohltemperierte Klavier, immer Donnerstagmorgen um 8 Uhr. Jedes Werk wurde zweimal gespielt, zu Beginn und zum Schluß. Dazwischen erfolgten Analyse und Kommentar.
Wöchentliche Orgelvespern veranstaltete er Samstag nachmittags in der Dreikönigskirche. Von 1947 bis 1981, 34 Jahre lang bis zum Ruhestand. Es waren musikalische Gottesdienste ohne Predigt, aber mit viel Orgelmusik. Hier spielte Walcha vornehmlich Bach.
Mir persönlich sind die Vespern in eindrücklicher Erinnerung, weil ich einerseits verschiedentlich Walcha an der Orgel vertreten habe, wenn er auf Konzertreisen war; andererseits öfters auf der Seitenempore saß und unter Kurt Thomas' Leitung bei der Dreikönigskantorei als Oboist mitmusizierte. Oft sang nämlich die Kantorei in den Vespern. Hier war die häufigste künstlerische Begegnung zwischen Walcha und Thomas. Auch in vielen Gottesdiensten war das der Fall, wenn der Chor sang. In der Festschrift zum zehnjährigen Bestehen der Kantorei lesen wir: 160 Gottesdienste und 95 Vespern.
Walcha war ein überaus treuer und zuverlässiger Gestalter der Gottesdienste in Dreikönig. Im Gegensatz zu seinen vielen Konzerten und Vespern hat er hier fast nur improvisiert. Dies war seine besondere Kunst und Leidenschaft, der Ausdruck seiner musikalischen Genialität wie seiner spielerischen Fähigkeiten.
Hier begegneten wir auch der religiösen Seite seines Wesens. Seine Sicht der Kunst bedingte Religiosität und umgekehrt galt dasselbe. Seltsamerweise kehrte er beides nie pointiert hervor, den Künstler nicht, das religiöse Denken nicht. Sein ruhiges Selbstbewusstsein hatte solche nach außen gekehrten Standortbestimmungen gar nicht nötig.
Nachdem die 1949 eingeweihte Orgel von Förster & Nikolaus künstlerischen Ansprüchen nicht mehr genügte, beschloss der Magistrat von Frankfurt Walcha eine neue Orgel zu bauen. Dies hervorragende Werk der Firma Schuke / Berlin wurde 1961 eingeweiht und steht heute noch.
Von ungeheurer Eindringlichkeit waren seine großen Bachkonzerte, etwa die Clavierübung III. Teil oder die komplette Kunst der Fuge. Es waren Konzerte in Dreikönig, die ich nie vergessen werde.
Ein kurzer Abriss seines Lebens:
Geboren am 27 Oktober 1907 in Leipzig, gestorben am 11. August 1991 in Frankfurt im Alter von 83 Jahren. In Leipzig war er Schüler von Günther Ramin und Günther Raphael. Neunzehnjärig erblindete er vollständig, ein Schicksal, das er seit Jahren vorausgesehen hatte. So lange es noch möglich war, lernte er mit Vehemenz Orgelwerke auswendig. Seine Frau Ursula spielte ihm später bei neuen Werken Stimme für Stimme vor, er setzte sie im Kopf zusammen. Eine rätselhafte ungeheure Gedächtnisleistung! Unsere Bewunderung gilt aber auch seiner Frau, der hier ehrend und dankbar gedacht werden soll.
1926-29 Organist an St. Thomas in Leipzig, 1929 Organist an der Friedenskirche in Frankfurt am Main, ab 1933 Lehrer am Hoch'schen Konservatorium, ab 1938 Professor an der Frankfurter Musikhochschule. Von 1946 bis 1981 Organist an der Dreikönigskirche (35 Jahre lang).
Zu seiner Lehrtätigkeit:
Er hatte eine große pädagogische Begabung, die Fähigkeit, jungen Menschen Traditionen vergangener Zeiten zu vermitteln und ein Stück von sich selbst: Bescheidenheit, Werktreue, Demut vor den großen Meistern, aber auch Bewusstsein des eigenen Wertes. Er konnte gute Leistungen anderer, vor allem seiner Schüler, rückhaltlos anerkennen und sparte nicht mit Lob, wenn es berechtigt war. Man fühlte sich als Schüler stets gut bei ihm aufgehoben und verstanden, er machte Mut und half über Klippen. Nur Schlampereien und mangelnde Sorgfalt gegenüber dem Notentext konnte er schwer ertragen. Phänomenal war auch sein anscheinend visuelles Gedächtnis: „Schaun se mal, oben links auf der 2. Seite, im 3. Takt, 2. Viertel...“ usw. Bei Finger- und Pedalsätzen konnte er spontan helfen, obwohl er ja nicht sah, in welcher Weise der Schüler falsch gespielt hatte. Er kannte die unterschiedlichen Lesarten der verschiedenen Verlags-Ausgaben. Er hätte die Bach'schen Orgel- und Cembalowerke aus dem Kopf neu in die Feder diktieren können. Er hat uns Schülern die Noten umgeblättert, und nicht etwa auch von uns verlangt, was naheliegend gewesen wäre, alles auswendig zu spielen. Er hatte eine einzigartige Übersicht auch über die schwierigsten Stücke. Er drang dadurch tief in die innere Struktur der Werke ein. Daraus bildete sich eine besondere Art der Phrasierungs- und Artikulationskunst heraus, die den Orgelklang wunderbar auflockerte und zu einer großen Klarheit und Lebendigkeit führte. Seine besondere Liebe, und das hat er uns Studenten voll vermittelt, galt den Choralbearbeitungen Bachs, die er mit einer ergreifenden Verinnerlichung zu gestalten vermochte.
Wenn er merkte, daß ein Schüler aufmerksam mitdachte, und verantwortungsvoll mitarbeitete, war eine wunderbare, fast freundschaftliche Zusammenarbeit mit ihm garantiert. Ich selber habe dies freudig und dankbar erfahren dürfen.
Er war ungeheuer zuverlässig in der Durchführung des Unterrichts. Trotz seiner vielen Konzertreisen habe ich fast nie erlebt, dass Unterrichtsstunden ausgefallen sind. Wenn mittwochs abends Bachstunde war mit anstrengendem Programm, erschien er am Donnerstag morgen anscheinend frisch und ausgeruht zum Unterricht in Dreikönig. Immer eine freundliche Begrüßung, wenn man draußen vor dem Organisten-Aufgang wartete, und er aus dem Taxi stieg, das ihn gebracht hatte; übrigens immer pünktlich, ich habe ihn nie zu spät erlebt. Ich kann mich auch nicht erinnern, ihn je schlecht gelaunt, abgehetzt oder überanstrengt erlebt zu haben. Er ruhte in sich selbst und hat diese überlegene Ruhe an uns alle weitergegeben. Und vielleicht das Schönste und Beste: Er hat uns die Freude an der Musik und ihrer Interpretation vermittelt.
Walcha als Komponist:
Als Frucht der gottesdienstlichen Improvisationen veröffentlichte er vier Hefte mit Choralvorspielen, die einerseits spielerisch-improvisatorisch angelegt waren, andererseits in strengster Kontrapunktik mit raffinierten Kanonbildungen. Daß seine kleine Choralkantate "Lobe den Herren“ für Chor und Blechbläser so sehr bekannt geworden ist, hat ihn stets amüsiert, weil er dieses Werkchen mehr mit der linken Hand komponiert hatte. Bis heute bedeutsam ist seine Ausgabe der Händel'schen Orgelkonzerte.
Walchas Schallplatteneinspielungen:
In den fünfziger Jahren spielte er bei der Deutschen Grammophon das gesamte Bach'sche Orgelwerk auf Schallplatte ein, incl. der Kunst der Fuge, eine gewaltige Leistung, die damals großes Aufsehen erregte. Die Platten gingen um die ganze Welt. 1988 erhielt er dafür den Deutschen Schallplattenpreis. Er wurde weltberühmt und hat auch viel im Ausland konzertiert. Deshalb kamen Schüler auch aus aller Welt nach Frankfurt, um bei ihm zu studieren.
Mit Heiterem möchte ich schließen:
Walcha konnte sehr aufgeräumt und fröhlich sein. Bei Examensfeiern hat er Doppelfugen am Klavier improvisiert über: „O du lieber Augustin“ und ein anderes Volkslied, das mir entfallen ist. Was hat er gelacht über „Die Post im Walde“, die wir bei ähnlicher Gelegenheit musizierten: Drinnen Bariton und Klavier, das Trompetensolo wurde draußen vor der Tür gespielt auf seinem geliebten Trompetenportativ, das er sich hatte bauen lassen, um darauf die Trompetenpartie des 2. Brandenburgischen Konzertes spielen zu können, für die es damals ja noch keine zureichenden Trompetenbläser gab.
Zu seinem 50. Geburtstag hat ihn Kurt Hessenberg bedichtet:
“Mein liebes Geburtstagskind“
Und dann mitten im Gedicht die Stelle:
„soll ich erwähnen noch ...? Ach nein, Schwamm drüber!
Am Ende doch? ... nein, lassen wir es lieber:
Wie aus dem Straßengraben nächtiglich
mal eine Stimme schallte mächtiglich,
so ein klein wenig lallend mit der Zung',
und – apropos - die Stimm' war noch sehr jung!
Wes ist der Mund, der, dass es weit erklingt
„Mein gläubig Herz, frohlock, sing, scherze“ singt?
Er ist nicht angeheitert, der da liegt
im Graben, nein, nur recht vergnügt.
Dass musikalisch er, steht außer Frage,
und - er liebt Bach, sogar in solcher Lage!
Wer war das nur? Ich weiß es nicht mehr, nein!
es fiel mir nur - ganz per Zufall - heute ein.“
Und Hessenberg schloss sein Gedicht:
„Bleib, lieber Freund, das wünschen wir uns sehr,
derselbe für uns alle, wie bisher,
wie man so sagt: Als Mensch und Organist
und leb so hoch, wie's eben möglich ist!“
Prof. Hermann Harrassowitz
Seit 1946 ist Hermann Harrassowitz ununterbrochen als Organist tätig; er begann in Oberhessen und Rheinhessen. Von 1962 bis 1995 war er Kirchenmusiker an St. Lorenz in Nürnberg, der größten evangelischen Kirche Bayerns. 1968 wurde er zum Kirchenmusikdirektor ernannt.
Als Organist machte er Funkaufnahmen und konzertierte z.B. in USA, Ungarn, Südafrika und der Schweiz. Er übernahm die Leitung des Bachchores und des Kammerchores von St. Lorenz und führte mit beiden Chören Konzertreisen im In- und Ausland durch, wie in Schweden, Schweiz, Frankreich, Spanien, Italien, Polen, Ungarn ...Unter seiner Leitung fanden Musikwochen u.a. in Südafrika statt.
1973 wurde Hermann Harrassowitz die Ausrichtung des 48. Bachfestes der Neuen Bachgesellschaft in Nürnberg übertragen. Von 1978 bis 2003 war er Lehrbeauftragter an der Staatlichen Musikhochschule Würzburg, 1981 wurde er zum Honorarprofessor ernannt.
1991 wurde Hermann Harrassowitz die Plakette „Soli Deo Gloria“ des Landesverbandes der Evang. Kirchenchöre in Bayern verliehen.