10 Jahre Kantorei der Dreikönigsgemeinde

von Renate Wirt im Gemeindeblatt der ev. luth. Dreikönigsgemeinde - Frankfurt am Main
Nr. 8 / 4. Jahrgang August 1955:

Wer heute die Kantorei in Gottesdiensten, Vespern und Konzerten hört und sieht, der weiß, daß Professor Kurt Thomas eine stattliche Schar von oft 80 jungen Menschen singend um sich stehen hat. Nur noch wenige wissen um die kleinen, bescheidenen Anfänge, die nun bereits zehn Jahre zurückliegen. Am 12. Juli 1945 wurde die Gründung der Kantorei in der Wohnung von Pfarrer Schmidt zwischen ihm und Professor Thomas beschlossen. Junge Menschen aus der Gemeinde und deren Freunde fanden sich gleich auf die erste Anfrage hin freudig bereit, mitzusingen. Jeder war dankbar und aufgeschlossen für die Möglichkeit, sich singend betätigen zu dürfen, da doch damals weder Schule noch Universität begonnen hatten. Man zog gespannt zur ersten Probe zum Haus Darmstädter Landstraße 81. Sie fand am 31. Juli - einem Dienstag - statt, dem Wochentag, der sich für unsere Proben bis heute nicht geändert hat.

Der Anfang glückte über Erwarten gut. Waren es auch nur 15 bis 20 Sängerinnen und Sänger, die sich in den ersten Wochen regelmäßig an den Proben beteiligten, so wuchs diese kleine Schar unter der erfahrenen Hand des Chorleiters schnell zu einer festen Gemeinschaft zusammen. Es entstanden die ersten Pläne, und bereits am 9. September 1945 sangen wir auf der Treppe im Schaumainkai 15, Haus der Schwestern des Privatkrankenhauses, in dem damals die Gottesdienste stattfanden, dann eine Motette von Arcadelt: „Jesu, komm doch selbst zu mir“ zum Gottesdienst. Am Mittwoch, dem 12. September, wirkten wir in einem der Hauskonzerte, die jeden Mittwoch bei Pfarrer Schmidt stattfanden, mit und sangen einige Madrigale. Im Herbst dieses Jahres zogen außerdem einige der früheren Schüler von Prof. Thomas nach Frankfurt, weil ihnen der Weg in die Heimat durch die Kriegsereignisse verschlossen war. Auch sie waren meist noch ohne feste Ausbildungspläne und fanden sich gerne in der Kantorei ein. Sie musizieren in den Hauskonzerten und erhielten durch das Pfarrhaus Schmidt weitgehend Rat und Hilfe, z. B. für die hungrigen Mägen! So wuchs die Zahl der Mitsingenden auf 30 bis 40. Alle waren bereit, Zeit und Kräfte einzusetzen. Vor allem in den ersten Nachkriegsjahren nahmen sie manche Strapazen und Entbehrugen, Kälte in ungeheizten Kirchen und Übungsräumen, Hunger wie Wegschwierigkeiten durch mangelnde Verkehrsmöglichkeiten auf sich. Prof. Thomas teilte alle diese Anforderungen mit uns; seiner festen Führung und seinem stets umsichtigen Planen verdankte der Chor von Anfang an seinen besonderen Charakter. Er verteilte die ersten Probenpläne für die Zeit zwischen September und Weihnachten. Wir sangen bei den Gottesdiensten im großen Saal der Göbschen Fabrik. Wir zogen zum ersten Male an einem Sonntag zu kirchenmusikalischen Feierstunden zur Hohenmark, zu Abendmusiken nach Königstein und Kronberg. Wir schrieben mit eigener Hand die Stimmen zu dem nur in der Partitur vorhandenen Weihnachtsoratorium ab, einem a-capella-Werk von Prof. Thomas. Nachdem wir es im nur von Kerzen erleuchteten Pfarrhaus Schmidt am 12. Dezember zuerst gesungen hatten, folgten Aufführungen in der Göbschen Fabrik, im Taunus, in Friedberg, Bad Nauheim und Aschaffenburg. Es waren Chorfahrten, wie sie noch heute gemacht werden; ja, die besonders dazu geeignet sind, sich untereinander kennenzulernen.

Der Chor wurde immer bekannter, Universitäts- und Musikstudenten gesellten sich zu uns, nachdem die Institute ihre Pforten wieder geöffnet hatten. Junge Menschen aus allen Teilen der Stadt versuchten dem Chor anzugehören. Die stimmlichen und vor allem zeitlichen Anforderungen brachten es mit sich, daß der Chor bis heute vorwiegend aus jungen, sehr einsatzfreudigen Menschen besteht.

Ende August 1946 konnten wir dann in die Dreikönigskirche zum Singen einziehen. Bald nach der Berufung von Prof. Walcha zum Organisten der Dreikönigskirche wurde die Einführung der samstäglichen Vespern von 17 bis 18 Uhr beschlossen, in denen die Kantorei meist einmal im Monat ein größeres kirchenmusikalisches Werk singt. Der wieder vorhandene große Kirchenraum erlaubte es, ab Ostern 1948 neue Pläne zu verwirklichen. Im März 1948 fand die erste große Aufführung der Johannis-Passion von J. S. Bach statt. Von diesem Zeitpunkt ab kamen die alljährlichen Aufführungen der großen Werke von J. S. Bach zu den gewohnten Aufgaben in Gottesdienst und Vesper hinzu.

Das Jahr 1950 brachte die ersten Anfragen für große auswärtige Aufführungen. Vorher hatten wir in Wiesbaden, Kassel und Darmstadt musiziert. Nun aber folgten wir zum ersten Male der Einladung, bei der Bachwoche in Ansbach mitzusingen. Diese Chorreisen, die uns per Autobus an unsere Ziele führten, wurden schon bald um neue, überraschende Anfragen erweitert. Neue Ziele lagen im Ausland. Im Herbst 1953 war es so weit, daß die erste Reise nach Paris und Spanien angetreten werden konnte, der seither weitere nach Italien und wieder nach Frankreich und Spanien gefolgt sind.

Die Aufführungen kirchenmusikalischer Werke haben uns, immer unter Leitung von Prof. Thomas, in weite räumliche Entfernung von der Dreikönigskirche gebracht. Aber sie bleibt doch der Mittelpunkt all unseres Wirkens. Zu ihr zieht es uns stets wieder zurück. Sind wir doch dankbar für alle Unterstützung, die wir nun schon ein Jahrzehnt hindurch von seiten der Pfarrer, des Kirchenvorstandes, des Organisten und der zuhörenden Gemeinde selbst empfangen haben.

Renate Wirth