4. Diese Hoffnung wäre freilich ein falsches Vertrösten

Es ist Ausdruck der Hoffnung, daß einst die Vergebung zur Versöhnung mit Gott wird. Menschliche Vergebung kann nicht erzwungen werden, wenn die Tragik im Verhältnis von Opfer und Täter nicht aufzuheben ist.

Diese Hoffnung wäre freilich ein falsches Vertrösten auf ein fernes Jenseits, wenn nicht schon hier und jetzt sich die endzeitliche Realisierung des Heils vorweg ereignen würde. Doch solche Antizipation bleibt, das kann nicht vergessen werden, immer fragmentarisch. Es ist Ausdruck der Hoffnung, dass einst die Vergebung zur Versöhnung wird und man mag schon jetzt zaghafte Anzeichen und Andeutungen dafür finden. Trotzdem besteht zwischen göttlicher Vergebung und dem, was Menschen an Vergebung leisten können, ein kategorialer Unterschied. Vergebung in dem skizzierten theologischen Sinn ist keine großmütige, gönnerhafte und selbstgerechte Tat nach dem Motto „Ich bin so gut, ich vergebe dir“. Ebenso wenig ist Vergebung etwas, was sich ethisch gebieten lässt. Vergebung lässt sich nicht vorschreiben. Es kann Situation geben, in denen Menschen niemals vergeben können, weil sich zwischen Täter und Opfer eine tragische Beziehung aufbaut. Das veranschaulicht eindrücklich die berühmte Geschichte Simon Wiesenthals. 1942 wurde er, selbst als jüdischer Lagerinsasse, von einer Krankenschwester an das Sterbebett eines verwundeten SS-Soldaten gerufen. Unter dem Gewissensdruck seiner grausamen Taten beichtete dieser Wiesenthal seine Vergehen und bat um Vergebung. Wiesenthal schwieg. Er konnte nicht im Namen der Opfer vergeben, doch – und darin besteht die innere Tragik – er konnte es später dann auch nicht vergessen, dass er nicht vergeben konnte. Er veröffentlichte die Geschichte und bat um Hilfe. Wie hättet Ihr gehandelt? Und er besuchte die Mutter des Soldaten. Beides, nicht vergeben zu haben und nicht vergeben zu können, wurde ihm zur Last. Es gehört wohl zu einem realistischen Blick auf den Menschen, und sei es auch ein pessimistischer Blick, dass diese innere Tragik im Verhältnis von Opfer und Täter nicht aufzuheben ist. Noch einmal: Vergebung kann hier nicht verlangt werden, sie kann sich wenn, dann nur ereignen, sie bleibt aber unverfügbar. Die vom Menschen nicht zu erzwingende, seine eigenen Kräfte und Möglichkeiten übersteigende, göttliche Macht der Vergebung bringt das Christentum in seinem wichtigsten Gebet zum Ausdruck. In der fünften Bitte des Vaterunser heißt es: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Vergebung ist eine Form der Gegenwart Gottes in der Welt, wann und wo immer in uns die Kraft zur Vergebung wächst, wo wir also anderen vergeben können, da geschieht nichts anderes, als dass wir diese Erfahrung weitergeben an andere.